Redakteurin Nicole Reese nimmt uns mit durch ihr Leben, in dem sie später dran war als andere und fragt sich, warum beim Thema Alter immer alle zurückweichen. Ist es die Angst davor, das Leben zu leben, das wir wirklich wollen?
Es ist eng. Körper stoßen aneinander, an Stühle, gegen Ranzen. Lautes Stimmengewirr, schüchterne Blicke. An die Aufregung, ans Herzklopfen erinnere ich mich, und an den blauen Nicky-Pullover des Jungen neben mir. Auf dem Foto zur Einschulung umklammere ich stolz und fest meine Schultüte. Spät dran war ich damals schon. Mit sieben war ich älter als die meisten anderen in meiner Klasse.
Rückblickend sticht aus dem Knäuel loser Fäden, die ein Leben so mit sich bringt, ein roter heraus: Zeitlich ein wenig daneben zu liegen. Jedenfalls was die gängigen Karriereschritte und Lebensentscheidungen betrifft: Studium, Praktikum, Ausland, Jobs, große Liebe, Kinder, trallala – und am Ende geht’s dann nochmal auf Reisen. Die Richtung ist jedenfalls vorgegeben.
Kinder, Karriere – später.
Auch bei mir. Manches dauerte nur etwas länger, lenkte mich zeitweilig ab oder war ein nötiger Umweg, der erst im Nachhinein Sinn ergab.
Die Stimmung meiner Freunde und mir changierte nach der Schule zwischen totaler Orientierungslosigkeit und glänzenden beruflichen Karriereoptionen, die sich, wenn überhaupt, eher zufällig ergaben. Wir studierten, jobbten in Bars und Marktforschungsinstituten, verpassten Bewerbungstermine, reichten Mappen ein, hatten feste Beziehungen genauso wie Affären.
Wir waren allesamt auf der Suche nach einem interessanten Leben. Bis die Definitionen, wie ein solches aussehen sollte, sich immer mehr voneinander entfernten.
“Life is what happens while you are busy making plans.” John Lennon.*
Ich ging mit Ende 20 wieder an die Uni, keine große Sache, alterstechnisch betrachtet. Das änderte sich erst, als ich kurzfristig ein Austauschsemester antrat, da ich vor lauter Liebeskummer unbedingt die Stadt verlassen wollte.
Anderes Land, andere Kultur: Als fast 30jährige ohne Mann und Kind, war ich vielen suspekt, musste mehrfach beteuern, dass mit mir alles in Ordnung ist, mir nichts fehlte.
Ich fand’s merkwürdig und ein wenig lästig. Diese Gespräche hatten nichts mir zu tun, dachte ich. Die Irritation fand im Außen statt. Ich tat ja, was ich wollte. Ich fühlte mich lebendig. Da ich fürs Volontariat bereits zu alt war – hier sind sie, die zeitlichen Begrenzungen – fing ich mit Mitte 30 als Praktikantin in der Redaktion eines Magazins an.
Ähnlich zeitversetzt ging es weiter. Statt direkt nach der Schule, flog ich kurz nach meinem 40. Geburtstag für ein paar Monate nach Australien. Ich kam als eine Art Yoga-Aupair bei einer Familie unter. Unterricht gegen Kost und Logis.
In meinem Umfeld schlug mir einiges an Unverständnis entgegen, da ich, vermeintlich aus einer Laune heraus, bereits Etabliertes aufgab. Auch in Sydney passte ich anfangs nicht wirklich in die Lebensentwürfe der Menschen, die ich traf, das änderte sich erst später.
„Ich hingegen fühlte mich selten so sehr bei mir, wie dort.„
Mehr Hingabe ans Leben um seiner selbst willen, bitte!
Wozu dieser kurze Abriss verschiedener Lebensstationen? Kann es überhaupt ein allgemeingültiges Leben geben? Falls ja, wie sähe das aus? Welche Schlüsse, Meinungen und Urteile ziehe ich aus meinen Erfahrungen, aus den erlebten und erdachten? Den Chancen, Privilegien und Widerständen?
Sind es nicht die Schritte zurück, die Pausen und Umwege, die dem Leben Tiefe geben? Dass Zick-Zack-Laufen statt nur Geradeaus? Heißt, sich für die eigene freie Existenz zu entscheiden, nicht in allererster Linie, für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen? Unabhängig von den Umständen, Schwierigkeiten und all den Dingen, die dazwischenfunken? Seien es Arztbesuche, Mieterhöhungen, Krankheiten, Hochzeiten oder Abgabetermine.
„Und ist es nicht genau das, was älter werden bedeutet: Sich selbst und der eigenen Existenz näher zu kommen? Bei sich und mit anderen zu sein, sich mit Hingabe dem Machen zu widmen statt ausschließlich das Ziel im Kopf zu haben? Dinge zu tun, weil sie dich begeistern und nicht, weil sie dich weiterbringen?„
Alles hat seine Zeit. Hat alles seine Zeit?
Interessanter ist es doch, zu sehen, wie sich die eigene Haltung dem Leben und insbesondere dem Älterwerden gegenüber verändert. Das Wissen um die eigene Endlichkeit, die jeden irgendwann erwischt.
Und doch: Kaum erwähne ich das Thema ‚Älterwerden‘ schrecken die meisten vor mir zurück, als würde ich nachlässig mit einem Glas Säure hantieren. Warum? Koketterie? Angst? Weil, wenn alles soweit gut läuft, am Ende des Lebens das Sterben steht?
„Oder ist es die darunter liegende Frage, die mit dem Alter immer dringlicher wird, da die Zeit drängt: Lebe ich das Leben, das ich leben will? Wir haben halt nur das eine. Und das gilt es zu verschwenden: An uns und die anderen, an die Liebe und unsere Träume. Nicht an gesellschaftlich akzeptierte Konzepte.“
*Wir haben keine Ahnung, ob dieses Zitat wirklich von John Lennon stammt.
Zum Weiterlesen:
Franz Berzbach: Die Kunst ein kreatives Leben zu führen. Anregung zur Achtsamkeit. Verlag Herman Schmidt, 2013
Erich Fromm: Haben oder Sein. DTV, 1976
Leander Greitemann: „Unfog your mind‘“, Verlag Hermann Schmidt, 2020
Titelbild @ Johannes Némecky
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