NIcole Reese vor einem blaune Container

In die Ruhe kommen. Bücher lesen.

Redakteurin Nicole Reese aus Hamburg stellt uns ihren Weg vor, in die Ruhe zu gehen: Bücher lesen. Sich in andere literarische Welten entführen lassen, abschalten und vor allem mit viel Tiefe statt mit Tempo.

„Von allen Gedanken schätze ich doch am meisten die interessanten.“

Die Sterne

Was bleibt ist ein Gefühl. Eine Sehnsucht, ein Ziehen, hin zu etwas, das größer ist als die eigene Wirklichkeit. Die Neugierde und Freude daran, in andere Realitäten, Geschichten und Gedanken einzutreten. In Welten, die der eigenen fremd sind, ihr widersprechen und weitere Perspektiven hinzufügen.

Wie das gelingt? Durchs Bücherlesen. Romane vor allem. Eine der schönsten Methoden, um die existentiellen Fragen des Lebens neu und anders zu betrachten.

Vom Lesen und Draufeinlassen: Ich bin eine andere.

Bücherlesen ist für mich eine meditative, fast kontemplative Angelegenheit. Sobald ich ein Buch aufschlage, fahre ich das Tempo runter und schalte mental in einen anderen Modus. In einen wesentlich langsameren, einen, der es mir ermöglicht, mich auf die Figuren, ihre Ansichten und Erlebnisse einzulassen.

Egal, ob es um den Teufel, ein verlorenes Lachen oder einen Aufziehvogel geht. Lesen klappt immer. Egal wann, egal wo. Am Küchentisch, im Bett oder auf dem Sofa. Manchmal reichen zwanzig Minuten, um mein eigenes Leben gegen ein anderes einzutauschen, manchmal tauche ich für Stunden ab. Und bin doch mittendrin.

Da ich teilnehme am Leben, am Denken – nur blicke ich aus anderen Köpfen auf Bekanntes und Unbekanntes. Das kann wahnsinnig lustig sein, beängstigend, aber auch Trost und Verständnis spenden.

Schnelles Lesen, langsames Lesen: Tiefe statt Tempo

Wir alle lesen. Immer mehr. Überall treffen wir auf Wörter. Hunderttausende sind es im Durchschnitt täglich. Meistens lesen wir auf digitalen Geräten. Wir scrollen durch Texte, scannen sie nach den wichtigsten Begriffen ab, lesen private Nachrichten, E-Mails, dazwischen Berichten übers Kriegsgeschehen, Wahlergebnisse und Werbeanzeigen. Videos, Bilder, Links zu weiteren Artikeln werden dazwischengeschoben.

Alles in einem wahnsinnigen Tempo.

Wir haben gelernt, mit dieser Flut an Texten umzugehen, schnell zu lesen, wichtige Informationen herauszufiltern und darauf zu reagieren. Das ist die eine Art zu lesen – und dann gibt es noch eine andere. Eine, die langsamer ist und komplett andere Qualitäten und Fähigkeiten aus uns hervorlockt:

Das Bücherlesen, am besten in gedruckter Form.

Use it or lose it: Lesen als eine Übung in Empathie

Die Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf hat sich mit den Auswirkungen des Lesens auf das menschliche Gehirn ausführlich beschäftigt. Wichtigster Punkt: Die Lesefähigkeit ist nicht genetisch vorgegeben, sie entsteht aus neuen Verknüpfungen des Gehirns. Lesen müssen wir alle aktiv lernen.*

„Was wir lesen, wie wir lesen und warum wir lesen, beeinflusst unsere Art zu denken, und die wandelt sich gerade in immer rascherem Tempo.“

M. Wolf **

Wolf stellt in ihren Forschungen zwei Leseformen einander gegenüber: Das langsame und das schnelle Lesen. Dabei unterscheidet sie zwischen digitalen und gedruckten Leseformen.

Laut Wolf führen die grundlegenden Eigenschaften des Mediums dazu, das unser Gehirn durch das tägliche, regelmäßige Nutzen die Besonderheiten von Tablet, Laptop und Smartphone in seinen Lesegewohnheiten reflektiert.

Das heißt, dass wir als digital Lesende vor allem Texte lesen, die visuell und inhaltlich auf das Medium zugeschnitten sind, auf denen wir sie lesen. Unser Gehirn passt sich in der Folge dieser Form immer weiter an und ist mit ungewohnt längeren Texten, die anders geschrieben und aufbereitet sind, wie ein Buch beispielsweise, irgendwann überfordert.

Es sei denn, wir machen weiterhin beides. Wolf nutzt für das tiefe Versenken in einen Text den Begriff„Deep Reading“, das langsame Lesen, vor allem im Gegensatz zum „schnellen Lesen“ auf digitalen Geräten.

Verständnis statt Stolz und Vorurteil

Es ist vor allem das tiefergehende, langsame Lesen, dass es uns ermöglicht, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Über das Lesen von erzählender Literatur verknüpften sich, so Wolf, verschiedene Regionen im Gehirn neu. Es sind vor allem diejenigen, die für Empathie, Vorstellungskraft und Verstand zuständig sind.

Entsprechend wichtig ist es für uns als Gesellschaft, die momentan auf beide Leseschaltsysteme zugreifen kann, die Fähigkeiten des vertieften Lesens nicht zu verlieren. Wolfs Bücher sind ein Plädoyers fürs Lesen. Und der Aufruf, damit so früh wie möglich anzufangen.

Alle Leser:innen tragen einen großen Schatz an Bildern und Sätzen in sich, ein Archiv an Ideen, Gedanken und verschiedene Welten. Mit diesem Wissen fällt es uns leichter, Analogien zu bilden, Rückschlüsse zu ziehen und Texte kritisch zu hinterfragen.

Mehr Verständnis und Empathie für andere Leben zu entwickeln. Was nach wie vor extrem wichtig bleibt. Spaß macht die ganze Leserei übrigens auch.

Lesen, um sich und die Welt zu verstehen

Lesen ist kumulativ. Manche Bücher verlassen einen nie. Sie verschmelzen mit dem eigenen System, werden irgendwo ungeordnet gespeichert. All die Geschichten, die man gelesen hat, an die man sich kaum noch erinnert, oder nur an Bruchstücke, an einzelne Szenen, an die Atmosphäre, das Licht.

Texte, die das eigene Leben, das Denken, den Blick auf die Welt stark verändert haben, ohne dass es einem während des Lesens bewusst war. Andere Bücher bissen hingegen sofort zu. Lesen heißt für mich in andere Welten einzutauchen und mit einem anderen Blick auf die Dinge des Lebens wieder aufzutauchen. Für mich eines der schönsten Vergnügen. ***


*Wer sich genauer mit den neurowissenschaftlichen Grundlagen beschäftigen möchte und sich auch für die kulturellen Auswirkungen des Lesens auf unsere zukünftige Gesellschaft interessiert, sollte unbedingt ihre Bücher lesen: Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Spektrum Verlag, 2010

** M.Wolf: Schnelles Lesen. Langsames Lesen. Penguin Verlag, 2019, Zitat: S. 10, ebd.

*** Falls das jemand wissen möchte, hier meine momentanen Leseempfehlungen:

Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes. Aufbau Verlag.

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. Fischer

Leanne Shapton: Bahnen ziehen. Suhrkamp

Ulrike Sterblich: The German Girl. Rowohlt. +  Drifter. Rowohlt

Rachel Cusk: Der andere Ort. Suhrkamp.

Portrait Nicole @ Johannes Némecky
Hintergrund @ Unsplash

Kategorien Life

Nicole Reese ist Autorin, Yogalehrerin und Mitbegründerin des Yogastudios Yoga Elements in Hamburg. Sie turnt seit den Nuller Jahren auf der Yogamatte, schreibt für verschiedene Print- und Onlinemagazine und hat im Trias Verlag ein paar Bücher zum Thema Yoga veröffentlicht.

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