Dauernd stolpern wir über EMDR – die Methode, die mit der Augenbewegung arbeitet. Wir haben mit EMDR-Experte Martin Rosenauer aus München gesprochen und wollten wissen, für wen sich die Methode eignet.
Herr Rosenauer, was verbirgt sich hinter den vier Buchstaben EMDR?
Eye Movement Desensitization and Reprocessing – also die Anregung der Verarbeitung belastender Lebensereignisse durch Desensibilisierung.
Warum spielen Augenbewegungen eine große Rolle für die Psyche?
Die beim EMDR durch den Therapeuten beim Patienten induzierten Augenbewegungen schaffen – ähnlich wie in den sogenannten REM-Phasen im Schlaf (Rapid Eye Movement) – eine sehr flüssige Kommunikation zwischen beiden Gehirnhälften und öffnen idealerweise “Schleifen”, in denen Lebensereignisse, die mit belastenden Gefühlen verbunden sind, unverdaut drin hängen.
In diesen Schlafphasen (vieles davon, aber nicht alles, können wir oft später als Traum erinnern) verarbeitet unser Nervensystem emotional bedeutsame Erlebnisse – soweit es das kann. Was in solchen Phasen, die symptomatisch bei Traumapatientinnen oft auch tagsüber auftauchen (dissoziieren, starke Tagträume), nicht verarbeitet werden kann, bleibt im Wachzustand verdrängt und insgesamt “fraktalsartig” als unverarbeitetes Lebensereignis im episodischen Gedächtnis “hängen”, statt verarbeitet und ins semantische Gedächtnis einsortiert zu werden.
Wie läuft die Behandlung ab?
Beim EMDR greift man im Wachzustand diesen Verarbeitungsprozess auf und regt ihn durch Worte oder auch Berührung an. Wichtig ist es, den Patientinnen stärkende Suggestionen zu geben, damit diese während der Traumaaufarbeitung nicht dissoziiert werden (deswegen ist es für EMDR-Therapeuten wichtig auch Hypnose und Wachhypnose zu beherrschen), sondern das Trauma aufarbeiten können. Das geschieht, wenn sich Patientinnen stark genug fühlen und das eigene “innere Kind” liebevoll und mutig in die Arme nehmen können.
Falls dies nicht gemacht wird, bringt EMDR oft leider nichts und es kommt in den Sitzungen zu frustrierenden Retraumatisierungen (übrigens für beide Parteien, Therapeut und Patientin), weil EMDR zwar formal angewendet wird, die Patientin aber nicht ins Gefühl geht. Das heißt, hier wird die Methode mechanisch eingesetzt, aber sie entfacht keine tieferen, traumalösenden Lernprozesse.
Die Behandlung läuft in 8 Phasen ab, welche nacheinander abgearbeitet werden:
- Anamnese und Behandlungsplanung
- Stabilisierung und Vorbereitung
- Einschätzung/Bewertung vor dem Prozessieren
- Prozessieren (EMDR-Prozess)
- Verankerung
- Körpertest
- Abschluss
- Überprüfung und Neubewertung
Für wen eignet sich die Methode?
Für alle, bei denen das eigentliche, hinter der Symptomatik stehende Thema verdrängte, unterdrückte Gefühle und dadurch untergrabene Persönlichkeitsanteile hervor ruft. Diese hängen in den emotional belastenden Erlebnissen noch “drin“ und konnten dadurch nicht reifen und wachsen. Das ist in der Regel bei 90-95 Prozent aller Patientinnen so.
Bei sanfteren Themen wie leichter Angst und unterdrückter Wut reicht oft auch die Arbeit mit der aufdeckenden Hypnose, auch Hypnoanalyse genannt. Wenn die Ängste sehr stark im Körper festsitzen, ist zudem Körpertherapie eine ergänzende Option. Ist die Körpermuskulatur zu sehr dauerangespannt und entspannt sich auch im Tiefschlaf nicht – Partner beobachten dies oft bei PTBS-Patienten – können im Schlaf auch die Emotionen nicht hochkommen.
Deswegen berichten viele Yogis auch davon, dass sie nach dem Yoga teils wilde oder auch angsteinflößende Träume haben (z.B. unterdrückte Lebenslust oder sexuelle Träume). Ein sich öffnen kann aber natürlich auch durch Begegnungen mit Menschen oder eine Umarmung entstehen.
Welche Risiken gibt es bei der Behandlung? Wie schätzen Sie die erneute Konfrontation mit dem Trauma ein?
Es muss gemacht werden (die Konfrontation mit dem Gefühl, nicht unbedingt mit dem “Traumaereignis”), um die Gefühle anzugehen und das Trauma aufzuarbeiten. Die Patientin muss dabei immer wieder gestärkt und unterstützt werden, zu ihren eigenen Ressourcen zu finden.
Ziel ist es, dass sie sich stark genug fühlen, wenn sie beginnen die belastenden Gefühle zu spüren. Im Endeffekt ist es wie bei einem Marathontraining, man fängt mit kleinen Schritten an und traut sich langsam mehr und mehr zu.
Was hat Sie an der Methode fasziniert?
Zum einen, wie einfach sich dadurch vielfältige Störungsbilder bei unzähligen Patientinnen behandeln lassen. Zum anderen, wie gut das vom Therapeuten erzeugte Gefühlswechselbad sein muss (fliegender Wechsel zwischen Ressourcenarbeit, Ich-Stärkung und aufdeckender Arbeit mit Desensibilisierung), damit das Unbewusste des Patienten das Trauma und die dazugehörigen Gefühle auch wirklich freigibt.
Als ich das verstanden hatte, war ich selbst schon fünf Jahre in diesem Job tätig. In manchen Phasen lerne ich auch immer noch dazu. In einem solch diffizilen Beruf wie der Traumarbeit, sollte man als Therapeut stets an sich selbst arbeiten und die eigene Arbeit beständig mit einem Supervisor reflektierten.
Wie viele Behandlungen sind in der Regel notwendig?
Ca. zehn bis dreißig Behandlungen. Von der Theorie her geht EMDR wesentlich schneller. In der Praxis – zumindest in meiner – hat sich aber gezeigt, dass viel Ressourcen-, Erklär- und Überzeugungsarbeit nötig ist, bevor jemand wirklich bereit ist, in tiefe Trauer oder auch Todesängste abzutauchen. Das Gefühl ist ähnlich wie bei einem Fallschirmsprung.
Wie ordnet die Wissenschaft die Methode ein?
EMDR ist wissenschaftlich gut untersucht und vom Wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie als Methode im Bereich Trauma/PTBS anerkannt.
Es heißt, Traumata werden vererbt. Kann EMDR auch in der zweiten Generation helfen?
Es geht immer ums Lernen. Dieses Lernen kann auf der Ebene der psychischen Entwicklung (Nervenzellen) und auf der Ebene der Gene und Zellen stattfinden. Also ja, auch wenn ich den Begriff “vererben” in diesem Kontext nicht mag, weil er von den Lernprozessen dahinter, welche es zu verstehen gilt, ablenkt: Es ist möglich, ein Trauma zu “vererben”.
„Aufarbeiten lässt sich ein Trauma aber immer nur in der Gegenwart und dazu gehören immer die Gefühle des Patienten, welche er damit assoziiert.„
Martin Rosenauer
Aber auch bei anderen Symptomatiken wie Depressionen (z.B. reaktive Trauerdepression) oder Angststörungen, wo der Therapeut ein unverarbeitetes Trauma hinter der Symptomatik vermutet, kann und sollte EMDR eingesetzt werden.
Für wen ist EMDR nicht geeignet?
Wenn es um das Umlernen reiner Gewohnheiten geht, z.B. bei einem Gewohnheitsraucher. Hier braucht es kein EMDR – die Methodik, beide Hirnhälften miteinander ins “Schwingen” zu bringen, kann aber auch hier als Unterstützung nützlich sein. Das ins Schwingen zu bringen und den kritischen Faktor, wie man das in der Hypnose nennt zum Absinken zu bringen, also raus aus dem Verstand und dem logischen Denken und dem Denken in erlernten Überzeugungen, kann auch beim Umlernen reiner Gewohnheiten nützlich sein.
Es gibt eine Reihe von Kontraindikationen, u.a.:
- Menschen mit starker Ich-Schwäche, die sich oft schwer führen lassen wie z.B. Borderliner oder Narzissten,
- Menschen mit starkem sekundären Krankheitsgewinn,
- bei Psychosen,
- bei starker Suizidalität sollte die Behandlung ohnehin in einem klinischen Setting erfolgen und
- bei Epilepsie
Natürlich gibt es auch für andere Symptomatiken, wie Angststörungen oder Depressionen eine Indikation für EMDR, aber nur, wenn der Therapeut ein Trauma und unterdrückte Gefühle hinter der Symptomatik vermutet.
Übernehmen die gesetzlichen Kassen eine EMDR-Therapie?
Nicht bei mir – ich habe mit meiner Privatpraxis (nach dem Heilpraktikergesetz) keine Kassenzulassung. Bei approbierten Psychotherapeutinnen nur, wenn ein offensichtliches Trauma von den Patienten erinnert wird und folgerichtig die Diagnose PTBS gegeben wird.
Bei verdrängten, z.B. frühkindlichen Traumata oder auch bei Entwicklungstraumata (Ablehnung und wenig Liebe durch die Mutter; oder wenn jemand immer wieder in den eigenen Grundbedürfnissen nach Liebe, Schutz und Anerkennung durch die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen beschnitten wird) wird üblicherweise eine andere Diagnose gegeben. Obwohl es auch hier um starke, überwältigende Gefühle geht, die aufgearbeitet und durchlebt werden müssten.
Diese Menschen haben Schwierigkeiten weich, also entspannt und liebevoll, mit sich selbst zu sein. Und auch starke Seiten bleiben im Verborgenen, z.B. durch unterdrückte Aggressionen, die sich dann nicht in Selbstbewusstsein wandeln können. Somit bleibt ein großer Teil ihrer Ressourcen verdrängt.
Wir danken Herrn Rosenauer für das Gespräch.
Über Martin Rosenauer:
Martin Rosenauer ist klinischer Psychologe und Diplom-Betriebswirt. Er war nach dem Studium in diversen klinischen und therapeutischen Settings tätig, unter anderem als Einzelfallhelfer im pädagogischen Bereich im therapeutischen Kinder- und Jugendwohnen sowie als Bezugstherapeut in der Fachpsychiatrie.
Seit 2015 ist er in eigener Privatpraxis (Psychotherapie nach Heilpraktikergesetz) tätig. Er arbeitet vor allem mit aufdeckender Hypnose und hypnosystemischen Methoden sowie EMDR und Körperpsychotherapie.
Titelbild @ stayhereforu via Pexels
Portrait Hr. Rosenauer @ Dirk Spath
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