Redakteurin Jeannette Bohné schreibt über den Krieg gegen uns selbst. Über die Schönheits-OP, Social Media und falsche Bilder. Und über den Wunsch, dass jeder seine Antwort finden darf.
Wir sind im Krieg. Mit uns selbst. Mit unserem Spiegelbild. Mit dem kleinen Videokonferenzfenster, mit dem Gefühl, das aufkommt, wenn wir uns selbst an die Hüften fassen, an den Po, die Nase, wenn wir unsere Brüste begreifen, unsere Lippen betrachten oder unsere Wangen einsaugen, die Zungenspitze an den Gaumen drücken, wenn das Doppelkinn wackelt und wir den Bauch einziehen.
Wir sind im Krieg mit unseren Vorfahren, mit unseren Genen, wollen laut: danke für nichts Oma! rufen, wenn es kein Stiefelschaft mit unseren Waden aufnehmen kann und wir statt spitzen Wangenknochen a la Bella Hadid eher für die knuffigen Hamsterbäckchen bekannt sind.
Von Schlupflidern ganz zu schweigen. Wir verhärten die Fronten mit jedem Schluck Alkohol, jeder sorgenvollen Minute, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen, mit jedem heimlichen Atemzug am Sargnagel, der manchmal viel zu köstlichen Zigarette, der Sonne im Urlaub und dem zu üppigen Abendessen.
Unsere Waffen: Yoga und Selbstliebe? Eher klatschnasse Anzüge unter Strom, High Protein Meals, Massagen, Green Smoothies, Hyaluron-Patches und Jasminsalben, Peelings und Trockenbürsten, Detox, Cleanse und schließlich kleine Kanülen, dampfende Laser, widerhakige Fäden, dickere Kanülen, Sauerstoffmasken, zentraler Venenzugang, Skalpell, gelegentlich Hammer und Meisel, Drainagen und Blasenkatheter.
Während uns große Kosmetikmarken “love yourself”-Botschaften zu brüllen, nimmt die Anzahl der chirurgischen Eingriffe, die einen rein ästhetischen Grund haben, zu. Konstant. Die VDÄPC, die Vereinigung der deutschen ästhetisch-plastischen Chirurgen, verzeichnet einen steigenden Anstieg an ästhetisch-plastischen Eingriffen. Im Vorwort zum Mitgliederbericht 2022 heißt es:
“Der Wunsch nach einer ebenmäßigen und harmonischen Körpersilhouette sowie nach einer frischen und wachen Ausstrahlung ist auch in Krisenzeiten gefragt. Sei es der Blick in den Spiegel oder die Selbstbetrachtung in der Videokonferenz – viele Menschen fühlen sich in diesen Tagen müde und erschöpft (…).”*
Die Welt steht am Abgrund
Die Welt steht am Abgrund, aber wir wollen auch in Krisenzeiten leistungsstark und wach in die Kamera strahlen. Wer wirft den ersten Stein? Und wer hat sich nicht schon mal selbst in die müden Augen geschaut und gedacht: kann man da nicht was machen. Klar kann man.
Und macht man auch, das zeigt die aktuelle VDÄPC Mitgliederbefragung. Für 2021 verzeichnete die VDÄPC einen Zuwachs ästhetischer Behandlungen von rund 15% im Vergleich zum Vorjahr. Wir dürfen uns fragen, ob die letzten zwei Jahre uns hässlicher gemacht haben (andauernder Stress hilft nicht beim Blick in den Spiegel oder die Kamera zu strahlen) – und wir jetzt die Schäden “ausbügeln” oder ob wir einfach insgesamt immer unzufriedener mit unserem Aussehen sind.
Immer noch schöner werden wollen. Die Schönsten. Wie die böse Stiefmutter von Schneewittchen. Einfach “love yourself” und zwei mal durchatmen reicht offensichtlich nicht – und die Antwort, wer uns in diesen Schönheitswahn treibt, scheint auf der Hand zu liegen.
Kim, Kylie, Kendall, Kourtney und Khloe
Die bösen Medien mit ihren Hohepriesterinnen Kim, Kylie, Kendall, Kourtney und Khloe, die mit Millionen Followern auf Instagram und Co. diktieren, was schön ist – und vor allem suggerieren: so könntest du auch aussehen. Es braucht nur den richtigen Pieks.
In einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) vom Dezember 2021 gaben 23,1 Prozent der Befragten** unter 20 Jahren an, dass die Nutzung und das Konsumieren von Social Media den Wunsch nach einer Veränderung des Erscheinungsbildes verstärkt hätten.
Fast ein Viertel der jungen Menschen sieht in den eigenen Augen also nicht richtig aus. Noch nicht schön genug. Natürlich, auf Bildern lassen sich die vermeintlichen Mängel mit Facefiltern beheben, in Sekundenschnelle werden so die Augen wacher, die Haut glatter, die Lippen größer und die Zähne weißer.
Selfie, Selfie in der Hand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Wer hier “ich” rufen will, muss heute immer weniger Zeit, Geld und Schmerzen investieren, denn minimalinvasive Eingriffe liegen im Trend.
Die VDÄPC beobachtet einen Anstieg von 13,8% im Vergleich zum Vorjahr, Botox, Hyaluron und Filler – auch Lunchtreatments genannt, weil es schnell geht und man arbeitsfähig bleibt – liegen im Trend, bei Frauen und bei Männern. Kleiner Pieks. Fertig.
Wieder eine Schlacht gegen das unschöne Selbstbild gewonnen. Wenn man durchs Internet scrollt oder streamt, wenn man zufällig bei einer Reality-TV-Show hängenbleibt oder im Wartezimmer des Lieblingsinjektors durch die Gala blättert, gewinnt man den Eindruck “natürliche” Gesichter gibt es nicht mehr. Alles ist aufgepolstert und konturiert – “cheekbones to cut glass with” für sie, “the perfect jawline” für ihn.
Kaum etwas ist so beliebt wie das gehässige “Vorher-Nachher” – das Gegenüberstellen von Bildern vor und nach angeblichen Schönheitsoperationen. Neben Bella Hadid und Kylie Jenner, zwei sehr jungen Frauen, die von Kindesbeinen an in der Öffentlichkeit betrachtet und besprochen werden, wird hier gerne der ehemalige Kinderstar Zac Efron verspottet, sein Verbrechen: eine viel zu markante Kieferpartie.
Erworben durch? Injektionen sagen die einen, einen brutalen und unabsichtlichen Kieferbruch, er selbst. Es wird gespritzt und geschliffen, wo es nur geht. Aussagen wie: “Ich stehe total auf gemachte Lippen” gehören ins Standardrepertoire eines Flirtshow-Kandidaten.
Schrecklich! Furchtbar! Unmöglich! Tötet die Kardashians und rettet unsere Kinder!
„Wenn es doch nur so einfach wäre: Social Media und falsche Vorbilder einfach abschalten, Filter verbieten, Madonna gleich mit und schon sind wir alle glücklich.“
Doch so einfach ist es natürlich nicht. Und im Kontrast zu den “bösen” Kardashian-Jenners steht, etwas blass und mit Pickel auf der schmalen Oberlippe: Selena Gomez. Ex-Disneystar. Ex-Bieber-Freundin. Und derzeit die meistgefolgte Frau auf Instagram. Über 400 Millionen Menschen zählt sie zu ihren Followern. Ein Superstar ohne Filler aber mit Babyspeck.
Sind wir also doch nicht verloren? Gibt es einen Ausweg aus dem Schönheitskrieg?
Die Zahlen sagen: Nein.
Neben den minimalinvasiven steigen auch die Zahlen der ästhetisch-plastischen Eingriffe. Auch wenn Covid19 den Wachstumstrend kurzzeitig verlangsamt hatte (denn viele elektive Eingriffe wurden im Jahr 2020 aufgeschoben), stiegen die Eingriffe im letzten Jahr um gut 17% an***. Dabei schreibt die VDÄPC: “Signifikant auffallend ist die Zunahme von Fettabsaugungen im zweiten Coronajahr bei beiden Geschlechtern um insgesamt 32,6 Prozent.”
Wie und ob das mit den Schließungen von Fitness- und Yogastudios zusammenhängt ist spekulativ, wer sich an das eigene Ess- und Sportverhalten zu Pandemiezeiten erinnert, findet sicherlich eine subjektive Antwort. Fettabsaugung als der Versuch, die Zeit zurückzudrehen – oder ist auch das nur eine Reaktion auf den gerade wiederbelebten “Heroin Chic” der 90iger und einer auffallend kurvenlosen Kim Kardashian?
Die persönlichen Geschichten
Der Versuch, über Schönheit zu sprechen und dabei objektiv zu beobachten, kausale Zusammenhänge zu finden, mit dem Finger auf die oder die oder die zu zeigen und schließlich eine Lösung zu präsentieren, muss scheitern. Denn was alle Trends und Zahlen nicht verraten, sind die ganz persönlichen Geschichten, die hinter den Eingriffen stehen.
2021 das Jahr der VDÄPC
93.853 Eingriffe
38.854 Ästhetisch-Plastische Operationen
4.759 Brustvergrößerungen
2009 – ein Sprechzimmer in Bad Homburg
Über 100 – die Anzahl der durchgeführten Brustvergrößerungen des weißhaarigen Arztes in den letzten zwei Jahren
6500 Euro – die Kosten für Operation inklusive Aufenthalt im Privatkrankenhaus
3 Minuten – die Zeit, die vergangen ist, bis ich ja gesagt habe
8 – die Zahl bis zu der ich zählen konnte, bevor mich die Anästhesie ausgeknockt hat
0 – die Anzahl der Social Media Apps auf meinem Mobiltelefon
0% – die Anzahl der Menschen, die mich danach “offensichtlich schöner” fanden
100% ich – wie ich mich nach der OP gefühlt habe
Es ist eben nicht so einfach. Das mit dem Spiegelbild.
Mit dem Krieg gegen sich selbst. Meiner begann mit 13. Und wurde mit jeden Sommerferien verschärft. Nach sechs Wochen sehr beschränkter sozialer Kontakte war das Zurückkommen in die Schule nur von einer Frage geprägt: wer hat Brüste bekommen?
Jedes Jahr wippten und schwangen mehr durchs Klassenzimmer, nur meine blieben genau so, wie im Sommer davor und davor und davor. Daran änderte die Periode nichts, die Pille nichts und nicht mal der mit drei Kissen vollgestopfte Snoopy-BH in 65 AA konnte mir auch nur ansatzweise das Gefühl von “Frau werden” vermitteln.
Es war wie ein Witz, denn ansonsten schien alles “normal” – meiner Genetik entsprechend war aus einer kleinen Bohnenstange eine Mini-JLo geworden. Hintern zum Glas abstellen inklusive. Nur obenrum. Ebbe. Mäusefäustchen. Fand ich mich trotzdem schön? Ja, absolut. Wurde ich so auch von anderen wahrgenommen? Ja. Über mangelnde Bestätigung auf dem Pausenhof, praktisch dem analogen Instagram, konnte ich mich nicht beschweren.
„Aber mein Körper fühlte sich trotzdem falsch an. Als hätte er einfach vergessen, ein paar Hormone in meine Brüste zu schicken.„
Oberhalb vom Bauchnabel, unterhalb vom Schlüsselbein: Sperrzone.
Also zog ich in den Krieg. Strafte meine Brüste mit Missachtung. Inklusive “anfassen verboten” und “Licht aus”. Wenn sie sich weiter wie die eines Kindes zeigen wollten, dann bekamen sie auch genau die Behandlung. Finger weg. Oberhalb vom Bauchnabel, unterhalb vom Schlüsselbein: Sperrzone.
Die Hoffnung, dass sich doch noch was entwickelt, hielt lange. Schließlich sind und waren meine anderen weiblichen Familienmitglieder alle besser ausgestattet. Aber diese kleine Hoffnung blieb unerfüllt.
Und weil sich sonst keiner an meinem Körper störte, war das Staunen, als ich verkündete “unters Messer” zu gehen, groß. Eltern: besorgt. Freunde: verstört. Freund: viel zu verwirrt, um sich überhaupt zu äußern. Es hätte aber auch nichts gegeben, was mich hätte umstimmen können. Und so saß ich irgendwann 2009 bei einem Arzt zum Beratungsgespräch.
4.759 Mal einen speziellen BH tragen
“Sie wünschen sich also eine Brustvergrößerung?”
“Nein, ich wünsche mir Brüste.”
Von der OP erinnere ich mich nur an die Aufregung und ans Zählen. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8. Aufwachen. Große Verwirrung in meinem Kopf, an meiner Seite: meine Mama. Auf mir eine gefühlte Tonne an Verbandmaterial, links und rechts hingen Plastikschläufe aus den Mullbinden, darin Blut und Wundflüssigkeit. Das erste Aufstehen wurde mit kotzen bestraft. Und dann kamen die Schmerzen.
Eine Woche Schonhaltung, Schmerzmittel und schlecht riechende Haare. Dann ging es bergauf. Die Schläuche wurden gezogen, von den Mullbinden blieben nur großflächige Pflaster und dann sah ich sie zum ersten Mal. Viel zu prall, viel zu fest, viel zu glänzend, leicht gelblich verfärbt aber meine. Meine Brüste.
2021 das Jahr
4.759 Zahl der Brustvergrößerungen
Das bedeutet, 4.759 Mal einen speziellen BH tragen. Wochenlang. Narbenpflege. Den Körper neu begreifen. Unsicherheit. Unendliche Freude. Taube Stellen. Langsam regenerierende Nervenverbindungen. Ein erstes Wippen. Ein erstes Schwingen. Kleine Risse in der Haut. Feststellen, dass der Mythos mit der Taschenlampe stimmt. 4.759 Mal ein erstes Mal erleben. Erster schöner BH in der neuen Größe. Erster Sex. Erste Beichte. Erster Sommer. Und erster Friedensvertrag mit dem eigenen Körper. Mit dem Spiegelbild.
Ein Jahr nach der OP
Es dauert ca. ein Jahr nach der OP, bis man die wirkliche Größe, Form und Empfindsamkeit begreifen kann. Viel Zeit für die Idee, dass manche Frauen ihre “Titten für mehr Aufmerksamkeit” machen lassen.
4.759 Brustvergrößerungen sind auch 4.759 individuelle Gründe und Geschichten und das darf auch für alle Injektionen, für jede Lidstraffung, jede Fettabsaugung und jeden Lippenfiller gelten.
Statt “vorher/nachher” Häme und “Love Yourself” Mantras sollten wir vielleicht lernen darauf zu vertrauen, dass wir irgendwo zwischen Kylie und Selena eine Antwort finden, die für uns passt.
Schönheitstrends gab es schon immer und keine Werbekampagne der Welt wird das jemals ändern. Aus welchen Gründen wir mit unseren Körpern im Krieg sind und wie wir zum Friedensvertrag kommen, geht am Ende des Tages nämlich nur uns was an.
*https://vdaepc.de/wp-content/uploads/2022/05/190522_VDA%CC%88PC_Behandlungsstatistik_2022_final.pdf
**https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1281453/umfrage/einfluss-von-social-media-auf-den-wunsch-nach-einer-schoenheits-op-in-deutschland/
***https://vdaepc.de/wp-content/uploads/2022/05/190522_VDA%CC%88PC_Behandlungsstatistik_2022_final.pdf
Ich stimme vollkommen zu, obwohl es meine Frau ist, die ihre Brüste vergrößern hat lassen. Der Grund hierfür ist, dass ich selber gesehen habe, wie sehr sie im Krieg mit ihrem Körper war und dass ich niemals verstehen könnte, wie es sich anfühlt, in ihren Schuhen zu sein. Es geht mich nämlich nichts an und um Social Media ging es ihr auch nicht.
Danke für den Beitrag. Interessant, dass fast ein Viertel der jungen Menschen eine Operation wollen. Ich möchte eine Korrektur der Augenlider machen lassen. Hoffentlich finde ich bald einen guten Facharzt für dieses Vorhaben.
Der Artikel beschreibt sehr anschaulich, wie der Einfluss von Social Media auf das Schönheitsideal und den Wunsch nach minimalinvasiven Eingriffen steigt. Auch mein Onkel hat diesen Trend erkannt und sich vor ein paar Jahren einer Ohrenkorrektur unterzogen, da er sich schon lange für seine abstehenden Ohren geschämt hatte. Für ihn war es eine Befreiung, sich endlich selbstbewusst zeigen zu können und auch ich konnte die Veränderung deutlich wahrnehmen. Allerdings zeigt dieser Trend auch, wie wichtig es ist, ein gesundes Selbstbild und Selbstbewusstsein zu haben und sich nicht ausschließlich an unrealistischen Schönheitsstandards zu orientieren. Die Entscheidung für ästhetisch-plastische Eingriffe sollte immer wohlüberlegt und in Absprache mit einem erfahrenen Arzt getroffen werden, um langfristige körperliche und psychische Folgen zu vermeiden.
Vielen Dank für diesen Artikel zu Schönheits-OPs. Gut zu wissen, dass du dich jahrelang mit deinen Brüsten unwohl gefühlt hast und die OP geholfen hat. Ich werde auch bald eine Brustvergrößerung machen.
Vielen Dank für dein Feedback! Wir lieben den Artikel auch sehr! LG, Sabine & Simone
Danke für deinen wertvollen Beitrag dazu!
Danke für den Beitrag. Interessant, dass neben den minimalinvasiven steigen auch die Zahlen der ästhetisch-plastischen Eingriffe steigen. Ich suche aktuell einen Fachmann für die Reparatur eine Hyaluronbehandlung. Hoffentlich finde ich bald jemanden.