Krisen gehören zum Leben – das wissen wir nicht erst, seitdem Corona unser Leben auf den Kopf gestellt hat. Krankheiten, Trennungen und Verluste bringen uns mitunter ganz schön ins Straucheln. Wir haben Christine Schmid gefragt: Kann uns die Atmung in solchen Phasen helfen, Kontakt zur inneren Stärke aufzunehmen?
Als Atem Coach und Trainerin unterstützt Christine Schmid Menschen dabei, kraftvoll alte Strukturen aufzulösen und sich für Neues zu öffnen. Regelmäßig bietet sie Atemklassen für Einsteiger und Fortgeschrittene an, um gemeinsam zu praktizieren. Interessierten gibt sie Tools an die Hand, um auch allein regelmäßig zu üben und so dem Innersten auf die Spur zu kommen. Kann Atmen auch ein Weg sein, um besser mit Krisensituationen klarzukommen? Und wenn ja – wie geht das? Wir haben nachgefragt.
Christine, was bedeutet für dich innere Stärke?
Für mich hat innere Stärke vor allem damit zu tun, wie wir mit fordernden Situationen oder Lebensphasen umgehen. Ich selbst habe lange Zeit total viel gearbeitet und entsprechend war auch mein ganzes Leben getaktet. Diese Lebensphase war auch von Stärke geprägt. Gleichzeitig habe ich mich jedoch gewundert, warum mein Körper schmerzt. Immer wieder gab es dann Phasen, in denen gar nichts mehr ging und ich mich wie ausgeschaltet fühlte. Mein Leben wechselte zwischen diesen Extremen. Insofern bedeutet innere Stärke für mich, ein Toleranzfenster zu haben, in dem ich die Möglichkeit habe, bewusst auf meine inneren Ressourcen zurückzugreifen, damit ich gar nicht erst ins eine oder andere Extrem rutsche.
Gleichzeitig beinhaltet innere Stärke aber auch Verletzlichkeit. Wir gelangen zu innerer Stärke, indem wir unser Sein akzeptieren, wie es ist. Ich war früher ja auch stark, habe aber ständig meine Grenzen überschritten. Man könnte sagen, dass mein Leben vom Außen inspiriert war – ich hatte ein Bild von mir, in das ich hineingelebt habe. Das zu erkennen und diese äußeren Schichten loszulassen, hat mich zu einer ganz anderen Stärke gebracht, die sehr viel verletzlicher und weicher ist. Heute kommt meine Stärke aus einer ganz anderen Quelle und ich erlebe sie völlig anders. Es geht mehr darum, dass ich ich selbst bin, meinen Weg gehe und auch mal akzeptiere, dass ich mal nicht so viel Energie habe, ohne mich dafür zu verurteilen.
Wie ist es dir gelungen, zu diesem Punkt zu kommen?
Das kam tatsächlich über die Jahre des Übens. Ich praktiziere seit über 20 Jahren Yoga, meditiere, habe ein paar Ayurveda-Kuren und von Kindesbeinen an Sport gemacht. 2012 habe ich ein Sabbatical eingelegt und mich seitdem noch mal intensiver mit der Atmung beschäftigt. Je tiefer ich da mit der Zeit gehen konnte, desto mehr ist mir begegnet, was mir hilft, besser im Kontakt mit mir zu sein.
Welche Rolle genau spielt die Atmung bei diesem Prozess?
Jeder Mensch hat sein eigenes Atemmuster. Anhand dieser Atemstruktur lässt sich erkennen, wie die Person ihr Leben lebt und um welche Themen es bei ihr geht. Der Atem ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Wie weit ist der Brustkorb geöffnet? Wie sehr ist sie im Kontakt mit der Zwerchfellatmung? Im unteren Bauchbereich sitzt alles rund um das Thema „Selbst“, also Selbstwert, Selbstliebe, Selbstfürsorge etc. Wenn wir sehr gestresst sind, halten wir oft den Atem an oder atmen ganz flach. Der Körper wird dann nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt und das Hirn kann nicht mehr richtig funktionieren, was den Stress wiederum verstärkt.
Oft merkt man das selbst ja gar nicht. Wie kommt man aus diesem Kreislauf heraus?
Stimmt, ich vergesse das selbst auch manchmal. Bei einer hitzigen Diskussion beispielsweise kann es total helfen, erstmal zu atmen, aber in dem Moment ist die Stresserregung im Körper zu groß und es fällt einem einfach nicht ein. Deswegen sage ich oft: „Schreib dir auf, was für dich in dem Moment funktionieren könnte, sodass du dann darauf zurückgreifen kannst.“ Aber es ist wirklich Übung, dass wir überhaupt erstmal an den Punkt kommen, an dem uns auffällt, dass wir zu flach atmen.
Stichwort Stress: Wie ging es dir im letzten Jahr, als wir plötzlich im ersten Lockdown waren?
Ich habe wie gesagt inzwischen einen reichen Erfahrungsschatz, sodass ich schnell auf meine inneren Ressourcen zurückgreifen konnte, um mich der veränderten Lebenssituation anzupassen. Wenn alles im Chaos ist, fahre ich hoch und mir steht eine Energie zur Verfügung, von der ich nicht weiß, woher sie kommt. Ich denke, dass es die Regelmäßigkeit in der Praxis ist. Da habe ich dann tatsächlich sofort Kontakt zu meiner inneren Stärke.
Du hast dann täglich auf Instagram eine Live-Atemklasse angeboten …
Mit dem Lockdown habe ich bei vielen Menschen eine Veränderungen auf energetischer Ebene bemerkt, es war wie eine Schockstarre, weil sich die eigene Lebenssituation so unerwartet verändert hat. Ich selbst hatte direkt das Gefühl, dass wir da zusammen durch gehen, auch wenn mir nicht klar war wie. Es war dann eher ein spontaner Impuls, jeden Tag um 18 Uhr eine offene Atemklasse bei Instagram live anzubieten. Wir haben gut 20 Minuten getanzt und dann gemeinsam im Sitzen im verbundenen Atem geatmet. Das ging letztlich über zehn Wochen und es sind erstaunlich viele drangeblieben, die auch im zweiten Lockdown wieder zurückkamen. Zum Ende des Jahres hab ich etliche Nachrichten bekommen, in denen sich Menschen bedankt haben: Einige haben explizit geschrieben, dass ihnen diese gemeinsamen Atemklassen durch das Jahr geholfen haben. Sie hätten sonst nicht gewusst, wie sie Halt hätten finden können. Das war schon sehr beeindruckend, dass der Samen so aufging und die Leute über die Zeit gemerkt haben, dass es ihnen hilft, den Tag einmal abzuschütteln, und sie so auch mehr inneren Frieden und Stärke bekommen haben, sodass sie gut klarkommen konnten mit den veränderten Lebenssituationen.
Weißt du, ob einige alleine weiter praktiziert haben?
Naja, ich habe inzwischen ein Online-Programm entwickelt mit sieben Videos, die so gestaltet sind wie die Live-Sessions, und auch viele IGTV-Videos zur Verfügung gestellt, das ist alles abgedeckt auf Instagram. Und ich stelle jeden Monat eine Playlist auf Spotify zur Verfügung. Aber letztendlich ist es natürlich etwas anderes, gemeinsam live zu atmen.
Hast du noch eine Übung für uns, die in einer akuten Stresssituation helfen kann, Zugang zur inneren Stärke zu finden?
Grundsätzlich hilft es meist sehr, überhaupt erstmal den Atem zu verlangsamen, über die Nase und am besten in den Bauch zu atmen. Eine gute Übung ist die 4-Sekunden-Atmung. Dabei atmet man einfach 4 Sekunden ein und 4 Sekunden aus. Das kann man dann mit der Zeit steigern. Die neurowissenschaftliche Forschung hat ergeben, dass sechs bis sieben Atemzüge pro Minute optimal sind.
Über Christine Schmid:
Christine Schmid ist Atem-Coach und Künstlerin. Sie lehrt Atemmethoden und kraftvolle Tools, um vom Geist ins Gefühl zu kommen, mit sich in Verbindung zu sein und die persönliche Situation anzunehmen, zu transformieren und sich für Neues zu öffnen. In on- und offline Einzelsessions und bei unterschiedlichen Events unterstützt Sie ihre Klient*innen dabei, sich immer wieder fokussiert auszurichten und den persönlichen Lebensweg individuell nach den eigenen Bedürfnissen zu kreieren. Wer direkt starten möchte, kann sich hier ein PDF mit einem Anleitungsvideo und einer Atem-MP3 herunterladen.
Titelbild @ Conni Biesalski
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