Jeannette Bohné über die Libido

Libido gesucht: Atmen statt vögeln.

Redakteurin Jeannette Bohné erzählt, wie es ist, wenn der Körper sich nicht mehr wie gewohnt verhält. Was tun, wenn die Libido schlapp macht und untenrum die Wüste Gobi zu finden ist? Wo auf der rein körperlichen Ebene Gleitgel hilft, gibt es für den Kopf keinen „Quick fix“. Ihr Learning: Mein Sex, meine Bühne. 

ZIEMLICH GEIL.

Frisch verliebt. Hormone fliegen. Penisse werden steif, Höschen feucht und fürs Vorspiel reicht eigentlich schon ein intensiver Kuss. Freunde zurückrufen, Abendessen kochen, Bettwäsche waschen? Alles egal, solange man möglichst viel Zeit sehr nackt mit dem Objekt, dem Mensch, der Begierde verbringt.

Nachts auf der Tanzfläche, verschwitzt, verzückt, leicht enthemmt (nicht selten auch Dank Gin & Tonic), Blicke treffen sich, Körper werden wichtiger als Namen, schweißnasse Haut. One Night Stand mit Happy Ends.

Wenn zwei Menschen sich im richtigen Moment treffen, beide Bock haben: dann flutscht es. Es läuft, gleitet – bei der einen oder anderen tropft es sogar. Wo zwei Herzen im Gleichtakt schlagen, da tut die Biologie ihr Übriges dazu, pumpt Türme und Türmchen auf und flutet Tunnel – ist doch ganz natürlich. 

Und wer hat schon mal in einem Film gesehen, dass nach dem stürmischen Kuss und dem leidenschaftlichen, gegenseitigem Ausziehen einer der beiden Protagonisten aufsteht, ganz selbstverständlich eine Tube Gleitgel holt und sagt:

„Wie schön, dass wir das jetzt in unser Sexualleben einbinden können. Eine kleine Unterbrechung ist doch herrlich und NEIN!, dass hier trotz intensivem Küssen und Rumfummeln die Wüste Gobi anzufinden ist, verunsichert mich kein bisschen. Dich auch nicht? Herrlich. Dann machen wir mal fröhlich weiter.“

LASS UNS DOCH DIE SPÜLMASCHINE AUSRÄUMEN.

Korrekt, niemand. Weil das einfach nicht passiert und auch für die meisten von uns gegen jede erlebte oder anerzogene Sexuallogik geht. Geil = steif für alle mit Penis. Geil = feucht für alle mit Vagina.

Und wenn das mal nicht so ist, dann hat mit Sicherheit einer was falsch gemacht. Also lieber nicht drüber reden. Nebeneinander Youtube-Videos schauen kann ja auch schön sein.

Wenn sich der Körper plötzlich nicht mehr gewohnt verhält, kann das extrem verunsichern. Noch verstörender wird es aber, wenn der Kopf auch nicht mehr mitmacht.

Ein romantischer Abend, Hand in Hand, eine laue Sommernacht, ein Kuss, ein Griff um die Hüfte oder besser noch: um die Pobacken. Lippen öffnen sich, eine Zunge wandert, ein Hirn denkt SEX – und das andere: Ich muss dringend die Spülmaschine ausräumen.

Darauf verschließen sich Lippen, es wird sich aus der Umklammerung gelöst und bestens gelaunt verkündet: „Also, dass ist so schön hier draußen mit dir, aber lass uns doch schnell heim gehen, dann können wir die Spülmaschine ausräumen!“

Komisch, die andere Person findet die Idee überhaupt nicht toll, ganz im Gegenteil es wird beleidigt die Lippe nach vorne geschoben und es herrscht drei Tage Stille. Vielleicht fallen Berührungen sogar ganz weg und mit jedem Tag, den das nur einen von beiden stört, wird die Situation immer sprach- und hilfloser.

Wo auf der rein körperlichen Ebene Gleitgel helfen könnte, gibt es auf der Kopfebene keinen „Quick fix“. Verdammt. Alles, was hier helfen kann, ist: reden.

SIE HAT KEINEN BOCK.

Reden wir also darüber. Über das „nicht funktionieren“, die „Wüste da unten“ und über das nicht mal an Sex denken „da oben“. Über das fehlende Kopfkino und über die Verletzbarkeit, die mit der plötzlichen Lustlosigkeit kommt.

Eins vorweg, wer wie viel Lust hat, ist ganz unterschiedlich und hängt von zahlreichen Faktoren ab. Dabei muss Lustlosigkeit nicht immer ein Problem sein.

„Ein Paar kann auch wunderbar ohne Sex leben, wenn beide sich dabei einig sind.“, sagt die Psychologische Psychotherapeutin und Sexualtherapeutin M.Sc. Anke Nunheim. „Lustlosigkeit wird erst dann ein Problem, wenn der Leidensdruck für einen selbst oder die Partnerschaft zu groß wird.“

WAITING FOR SPRING. WAITING FOR LIBIDO.

„Leidensdruck“, was für ein Wort, eins, das mindestens eine Tonne wiegt und uns vielleicht ein bisschen hilft, die Ursachen für die Lustlosigkeit zu finden. Die Einnahme von Antikonzeptiva, der „Pille“ oder anderen Medikamenten kann ebenso zur Lustlosigkeit führen, wie Testosteronmangel, Menopause oder Depressionserkrankungen. 

Auch nach einer Geburt können beide Partner ein reduziertes Verlangen nach Sex und sexueller Nähe erleben, ebenso wie nach und während schweren Erkrankungen.

Da gibt es eine fantastische Szene in der finalen „Sex and the City“-Staffel:Samantha, die dauergeile, immer-Sex-wollende-Superfrau mit dem jungen Lover (Smith, wir erinnern uns), befindet sich mitten in ihrer Chemotherapie, zur Bekämpfung eines Brusttumors, als er gerne mit ihr in einer Umkleidekabine Sex hätte. 

Die alte Samantha hätte selbstverständlich nicht eine Sekunde gezögert, die, von Medikamenten und Eingriffen, geschwächte Samantha aber regiert anders, verkündet ihre Sex-Ära wäre vorbei und schlägt ihm sogar vor, mit anderen Frauen zu schlafen.

Als Smith schließlich nach Kanada für einen Filmdreh reist und Samantha erkennt, dass sie ihn doch liebt und nicht locker-flockig teilen will, schickt er ihr Blumen mit der Widmung: „waiting for spring“ – frei übersetzt: Ich warte auf dich.

LIBIDO IM URLAUB? DANN ATMEN STATT VÖGELN.

Warten, eine Pause machen. Durchatmen statt vögeln. Kann das die Lösung sein? Vielleicht sogar eine Chance, sich ganz neu mit der eigenen Lust auseinanderzusetzen. Gerade weil sie nicht im Raum ist, kann man ja mal ehrlich sein und sich überhaupt fragen: Warum habe ich Sex? Was will ich eigentlich für einen Sex haben?

M.Sc. Anke Nunheim empfiehlt genau das: „Die Gründe für Sexualität sind sehr vielfältig und individuell. Sexualität kann eine Bühne sein, ein Bedeutungsraum, in dem wir uns und unsere Bedürfnisse erleben können.“

Wenn mein Sex meine Bühne sein kann, dann darf ich auch bestimmen, wie das ganze funktioniert. Ganz bewusst. Egal, ob ich gerade „nur“ körperlich nicht in Stimmung komme, oder auch im Kopf eher über binomische Formeln nachdenke, als übers Kamasutra, meine Bühne darf ich gestalten, ohne den Druck zu haben, direkt ins Machen zu kommen. 

“Wenn wir selbstbestimmt erkennen, so geht es nicht weiter, dann können wir damit in die Eigenverantwortung kommen, uns auf die Suche begeben und den Kontext neu gestalten.” Das sind die klaren Worte der Therapeutin. 

WER, WIE, WAS, WIESO, WESHALB, WARUM?

Vermisse ich den Sex, den ich vorher hatte? Was daran genau? Warum löst mein jetziger Zustand bei mir Leiden und Druck aus? Weil ich gerne mehr möchte, oder weil ich spüre, dass mein Partner mehr will? Wann hat mir Sex besonders Spaß gemacht?

Was turnt mich überhaupt an, wenn ich alleine bin, wenn ich mit meinem Partner, meiner Partnerin bin? Was hält mich gerade vom Sex ab? Können das Medikamente sein, oder Stress? Passen mir meine Lebensumstände gerade nicht? Habe ich überhaupt den Raum für Erotik?

Und wir dürfen uns nicht nur theoretisch mit diesen Fragen beschäftigen, sondern auch physisch. “Den Bewegungsraum zu erweitern, kann helfen, mit gezielten Übungen im Becken – der Beckenschaukel aus dem Sexocorporel zum Beispiel, dem Entspannen der Schultern und begleitenden tiefen Atemübungen.“ – darüber, dass wir körperliche Erfahrungen schaffen, die sich durchaus angenehm und intim anfühlen können, aber eben kein Sex sind, können wir unsere Körper neu erfahren.

„Je mehr wir unseren eigenen Körper kennen, erkennen, welche Körperstellen wir gerne genussvoll erfahren und welche nicht und aus welchen Gründen, desto kompetenter können wir für uns neue Lusträume eröffnen und Körperlichkeit lustvoll erleben und teilen.“

Doch den wenigsten von uns fällt es leicht, die eigenen Lusträume, Wünsche oder Empfindungen zu verbalisieren. Wo soll man das auch gelernt haben, in Filmen und Büchern passiert der beste Sex halt irgendwie so.

Er macht, sie macht, jemand macht und auf magische Art und Weise erkennen alle die erogenen Zonen und erspüren alle das richtige Tempo und alle sind glücklich für immer. Rein, raus: Feuerwerk, danke, gerne wieder.

Sagen, was Sache ist, was man schön findet, will oder auch nicht, kann anstrengend sein, bisweilen fast peinlich – aber es kann eben auch ein großer Lustgewinn sein.

Erinnern wir uns an das Bild, dass unser Sex unsere Bühne ist – nur braucht es für jede Inszenierung auch einen Regisseur, sonst macht jeder und jede, was er oder sie für richtig hält. Standing Ovations? Fehlanzeige.

SIE HAT BOCK – SICH KENNENZULERNEN.

Wie finde ich also raus, was mir guttut? Mit Ruhe und Zeit und ohne Scham, mit: mich erleben. Das kann beim Sport oder beim Tanzen sein, beim in der Badewanne liegen und beim Atmen.

Wir dürfen uns selbst die Erlaubnis geben, uns zu entdecken. Und wenn „unten geschlossen“ ist, weil wir Angst vor Trockenheit haben, dann fokussieren wir uns eben auf die anderen 90 % Körper, die noch da sind.

Dabei kann es auch inspirierend sein, erotische Geschichten anzuhören oder zu lesen und dabei aufmerksam zu bleiben. Stößt mich etwas ab und warum zieht mich etwas an? Auch Gespräche mit Freunden und Freundinnen können helfen, auch weil man oft feststellt: Unlust erlebt irgendwann fast jeder.

Alle diese neuen Erfahrungen können helfen, eine neue Inszenierung der eigenen Lust zu finden. Und die funktioniert eventuell ganz anders, als es der Partner, die Partnerin gewöhnt ist. Dazu die Therapeutin:

„Sexualität in der Partnerschaft ist viel mehr als penetrativer Sex. Öffnen Sie den erotischen Spielraum für beide. Sex ist in erster Linie eine partnerschaftliche Allianz, bei der man füreinander, aber eben auch für sich selbst Verantwortung übernehmen darf. Das ermöglicht auch neue körperliche Erfahrungen. Slow Sex ist hier ein Stichwort. Slow Sex kann auch erst mal mit dem gemeinsamen Atmen beginnen – ohne den penetrativen Sex oder Orgasmen als Ziel zu haben.“

Nach der individuellen Vermessung erfolgt also die Partnerschaftliche. Und ja, der Gesprächseinstieg ist schwer, schwerer auf jeden Fall als anzumerken, dass wirklich mal wieder jemand die Spülmaschine ausräumen muss. Fangen wir also liebevoll an, mit einem Kompliment zum Beispiel.

Teilen wir mit, was wir an unserem Partner anziehend finden, vielleicht etwas Körperliches, vielleicht etwas Seelisches, bevor wir dann darüber sprechen, was wir an einem gemeinsamen Erlebnis besonders schön finden. Das kann sich so anhören: „Ich vermisse es in deinen Armen zu liegen und auch wenn mir Sex gerade schwerfällt, würde ich diese Nähe gerne mit dir spüren.“

Kein Bock zu haben kann sehr schmerzhaft sein, ja, daran können Partnerschaften zerbrechen, wenn das Gespräch und die Auseinandersetzung damit nicht stattfindet.

Wir alle haben das Recht auf selbstbestimmten, erfüllenden Sex und dazu gehört auch, die mangelnde Lust beim Arzt anzusprechen.

Gerade für Frauen, die mit der „Pille“ verhüten, kann es die einfachste Lösung sein, diese durch ein hormonfreies Verhütungsmittel zu ersetzen. 

Für alle, die nicht „einfach nur“ einen Pillenblister in die Mülltonne schmeißen können, versuchen wir die Lustlosigkeit als Chance zu sehen, als einen Moment der Reflektion, die Möglichkeit, die eigene erotische Landkarte neu zu gestalten.

Es kann ja nur besser werden, oder?


Über M.SC.PSYCH. Anke Nunheim:

Anke Nunheim hat in Düsseldorf, Madrid und Bern studiert. Heute arbeitet sie als approbierte Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) in eigener Praxis in Berlin und hat sich auf Schematherapie und weibliche Sexualität spezialisiert.

Portrait Jeannette @ Helge Hoffmann

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