Nicole Reese ist Autorin und Yogalehrerin. Gerade ist ihre neues Buch „Yin Yoga – abschalten, locker machen, relaxen“ erschienen. Im Artikel erklärt sie, wie der sanfte Stil Yin Yoga das emotionale Gleichgewicht fördert.
Sich selbst entkommt man nicht. Wozu auch? Im besten Fall gibt es eh keinen schöneren Ort, als bei sich selbst zu sein. Nichtsdestotrotz geben wir uns häufig besonders viel Mühe, um bloß nicht in die Nähe von uns selbst zu gelangen. Jede Gelegenheit, die Ablenkung verspricht, wird begeistert aufgegriffen. Warum? Weil es anstrengend sein kann, sich selbst auszuhalten. Lieber verzetteln wir uns in Geschäftigkeiten, Verpflichtungen, in den Ideen und Geschichten der anderen und unseren eigenen. Bis wir uns selbst abhanden kommen. Eine gute Idee um wieder mehr mit dir in Kontakt zu gelangen, ist natürlich Yoga. Insbesondere Yin Yoga ist Balsam für gestresste Gemüter und der beste Weg zurück zu dir. Also: Matte ausrollen, lang machen und in alle Ecken und Kanten hinein strecken.
The only way out is Yin: Raus aus dem Lärm, rein in die Stille
Im Yin Yoga versuchen wir leise zu werden und Anspannungen auf allen Ebenen los zu lassen: körperlich, mental und emotional. Dieser ruhige Yogastil, der die indische Yogalehre mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) verknüpft, bringt dein gesamtes System wieder in Balance. Yin Yoga hilft dir dabei, Stress abzubauen, indem du über das lange Halten der Positionen und einem langen, tiefen Atemfluss, das parasympathische Nervensystem ansprichst, welches für Erholung und Entspannung zuständig ist.
Aber auch energetisch hat Yin Yoga einiges zu bieten: Über die Asanas bringen wir unsere Lebensenergie, das Chi, vergleichbar mit dem Prana im Yoga, wieder ins Gleichgewicht, was deine Stimmung und Laune enorm heben kann. Laut der TCM fließt das Chi über unsichtbare Leitbahnen, die Meridiane, durch den gesamten Körper bis zu den Organen. Diesen werden dabei paarweise bestimmte Qualitäten und Emotionen zugesprochen, die über die dazugehörigen Meridiane stimuliert werden können. So kannst du beispielsweise über Übungen, die das Organpaar Lunge und Dickdarm ansprechen, deine Zuversicht stärken.
Kann die Energie jedoch nicht frei fließen, da Bereiche blockiert sind, können Unausgewogenheiten im System entstehen. Das kann sich durch kalte Füße, ständiges Grübeln oder die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, äußern. Über die Yin Haltungen bringen wir den Chi-Fluss wieder in Bewegung und lösen den Stau auf. Freie Fahrt auf allen Bahnen Richtung Entspannung und Gelassenheit.
Langmachen und loslassen: Die Yin Yoga Praxis
Die Yin Yoga Übungen finden vor allem im Sitzen und Liegen statt und werden zwischen drei und fünf Minuten gehalten. Dabei entspannst du deine Muskulatur und sinkst passiv in die Haltungen hinein. Über die lange Dauer, die du in den Positionen bleibst, wird in erster Linie das Fasziengewebe angesprochen, das für deine Beweglichkeit eine wichtige Rolle spielt. Faszien durchziehen den gesamten Körper wie ein Netz und verbinden Sehnen, Bänder, Muskeln und Nerven miteinander. Das Fasziengewebe kann sich unter Stress zusammen ziehen und reagiert unter anderem auf passiven Druck, Dehnung (Zugspannung) und Drehungen. Das machen wir uns im Yin Yoga zu Nutze, um Verklebungen im Gewebe und Kompression in den Gelenken aufzulösen, sodass dein Körper wieder geschmeidig und flexibel wird und du dich in alle Richtungen frei entfalten kannst. Für die Ausführung der Yin Yoga Praxis sind drei Prinzipien entscheidend:
1. Gehe nur so weit in die Haltung hinein, bis du einen sanften Widerstand, Zug oder Druck, spürst.
2. Entschließe dich bewusst dazu, ruhig zu bleiben.
3. Bleibe längere Zeit in der Position (in der Regel 3-5 Minuten, ist dir das anfangs zu viel, starte einfach mit 1 Minute)
Diese drei Prinzipien, die Sarah Powers1, eine der Pionierinnen des Yin Yoga, formuliert hat, gilt es, in jeder Haltung wieder neu umsetzen. Gerade das sehr sanfte Austesten der körperlichen Grenzen ist wichtig. Weniger ist mehr. Das heißt, auf einer Skala von 1-10, bleibst du in Hinblick auf die Intensität der Haltung eher bei sechs. Durch das lange Verweilen können Widerstände auftauchen, aber auch verschwinden. Nimm Rücksicht auf dich, deinen Körper, deine momentane Verfassung. Niemals in den Schmerz hinein gehen. Komme genauso achtsam in die Haltungen heraus, wie du auch hinein gehst. Versuche, mit Hingabe in die Positionen hineinzuschmelzen. Unterstütz dich mit allen Hilfsmitteln, die nötig sind, um deine Muskulatur zu entspannen, nur so kann dein Körper – und auch deine Seele – loslassen.
Die erträgliche Leichtigkeit des Seins: Akzeptieren, was ist
Das mit dem Stillwerden ist oft nicht so einfach, wie es klingt, nicht nur auf körperlicher Ebene. Häufig wird der eigene Lärm im Kopf erstmal lauter und intensiver, sobald der Krach im Außen abgestellt wird. Aber genau hier liegt die Möglichkeit, dich wieder mit dir zu verbinden: Beobachte, welche Emotionen, Empfindungen und Gedanken auftauchen, sobald es um dich herum ruhig wird und du in die Yin Position hinein fließt. Macht dich die Stille nervös? Tauchen die immer gleichen Gedanken und Themen auf? Langweilst du dich? Zappelst du die ganze Zeit herum, streichst dir die Haare zurück oder entfernst die Fusseln von deinen Leggings? Oder sinkst du entspannt in die Pose hinein, nimmst deinen Atem wahr und entspannst dich in die Haltung hinein?
Vor allem in Bezug auf deine aktuelle Gefühlslage bietet das lange Verweilen in den Asanas eine gute Gelegenheit, tief in dich hinein zu krabbeln, dort zu bleiben und dir anzugucken, was gerade los ist. Ohne direkt in deine Themen einzusteigen, die Situation sofort analysieren oder darauf reagieren zu müssen. Es geht einzig darum, präsent zu sein und zu beobachten. Und das ohne irgendetwas davon zu bewerten. Was dabei hilft, ist ein entspannter, weicher, tiefer Atem und eine gewisse Freundlichkeit dir selbst gegenüber. Verständnis und Mitgefühl, vor allem, wenn es nicht so klappt, wie gedacht, dein Körper sich fest anfühlt oder deine Seele etwas wund.
Phasen der Stille sind nötig, damit auch die leisen Töne, die unangenehm schiefen, gehört werden können. Nur so kannst du dich von ausgedienten Verhaltensmustern und Gedanken, die gar nicht mehr deine eigenen sind, lösen. Dranbleiben lohnt sich, da sich so nach und nach mehr Leichtigkeit entfaltet, sich Klarheit und Gelassenheit breit machen können. Entspannung auf ganzer Linie. Und keine Angst vor Nähe: The closer you get, the better you look.
Mehr zu Yin Yoga, Organen und Emotionen, inklusive fünf Yin Yoga Sessions, gibt’s in Nicoles neuem Buch, das sie gemeinsam mit Mirja Winkelmann geschrieben hat: Yin Yoga – abschalten, locker machen, relaxen. Riva Verlag.
1Sarah Powers: Insight Yoga. Die Synthese von Yoga, Meditation und traditionellem chinesischem Heilwissen. Arbor Verag, 2013
Über Nicole Reese:
Nicole Reese ist Autorin, Yogalehrerin und Mitbegründerin des Yogastudios Yoga Elements in Hamburg. Sie turnt seit den Nuller Jahren auf der Yogamatte, schreibt für verschiedene Print- und Onlinemagazine und hat im Trias Verlag ein paar Bücher zum Thema Yoga veröffentlicht.
Titelbild @ Nemecky
Bild Yoga @ Anna Shvets via Pexels
[…] Der Weg der Selbstentdeckung ist genauso wichtig wie die Übungen. Man sollte nicht entmutigt sein, wenn es nicht sofort klappt. Jeder kleine Fortschritt zählt151617. […]