Romy Winter ist dreifache Mutter, psychologische Beraterin, systemische Familientherapeutin und Autorin des Buches „Krisenfest – Das Resilienzbuch für Familien“. Grund genug mit ihr über Selbstfürsorge zu sprechen. Wie geht das als Mutter und was sind ihre wichtigsten Learnings?
Wie sorgst du bei einem Alltag mit 3 Kindern und einem Job am besten für dich selbst?
Tatsächlich ist mein Alltag sehr belebt und Zeiten, in denen mir langweilig ist, die erlebe ich — wie die meisten Mütter, die ich kenne — eher selten. Für mich selbst zu sorgen, beginnt daher mit der Entscheidung, auf mich zu achten und mir dafür bewusst Zeit zu nehmen. Allerdings, wenn ich es wirklich brauche und nicht weil sich das so gehört. Statt jede Woche konsequent 3 Stunden für mich zu blocken, mache ich das intuitiv und nach Bedarf — auch wenn feste Zeiten super sinnvoll sein können. Manchmal brauche ich aber mehr als die 3 Stunden, manchmal weniger. Denn natürlich ist mein Job oft auch anstrengend aber ich liebe das Schreiben und noch mehr die Arbeit mit Menschen, Paaren und Familien. Zu tun, was mich glücklich macht gibt mir unglaublich viel Kraft und Energie. Es mag etwas rabenmütterlich klingen aber ich habe mich recht früh in meiner Mutterschaft dafür entschieden, mich nicht total für meine Kinder aufzuopfern und sie über alle eigenen Belange zu stellen. Das wurde mir zum Glück auch schon von meiner Mutter so vorgelebt. Meine Mutter ist jedes Jahr mindestens einmal ohne mich in den Urlaub gefahren. Fand ich das immer gut? Ganz sicher nicht. Aber ich war in dieser Zeit stets in guten Händen (bei meinen Großeltern) und wenn es ihr dabei geholfen hat, den Rest des Jahres die liebevolle Mutter zu sein, die sie war, dann hat sie alles richtig gemacht.
Was bedeutet Selbstfürsorge für dich?
Gut für sich zu sorgen, hat für mich viel mit Haltung zu tun. Natürlich helfen mir bestimmte Rituale und Aktivitäten oder Passivitäten (Faulenzen) dabei, gut auf mich zu achten und meine Akkus zu laden — wie Joggen, Yoga, Meditieren, Surfen, Lesen, gesundes Essen und jetzt endlich wieder verlässlicher Schlaf — aber vor allem ist es eine Haltung gegenüber mir selbst und meinen Mitmenschen. Jeder ist sein eigenes Zentrum in seinem eigenen Universum. Selbstfürsorge heißt für mich daher, sich genauso gut um sich selbst zu kümmern, wie um andere. Denn wie heißt es so schön: Aus einem leeren Brunnen kann man nicht schöpfen. Sie geht für mich aber weit über Massage, Maniküre und Kaffeeklatsch hinaus. Für sich selbst zu sorgen, bedeutet auch, sich eigenverantwortlich um die eigene Seele, die eigenen Bedürfnisse und Bedürftigkeiten sowie um Ziele und Visionen zu kümmern. Zuerst sind wir Menschen, dann Mütter.
Was glaubst du, warum tun wir uns so schwer damit, uns selbst Gutes zu tun?
Ufff — das ist eine komplexe Frage. Ein großes Problem besteht auf jeden Fall darin, dass uns wirklich die Kraft und die Zeit fehlt, um uns gut um uns selbst kümmern zu können. Denn sobald wir das tun, hören wir die Uhr ticken, die Kinder rufen und die To-Do-Liste lachen. Es ist aber eine totale Milchmädchenrechnung zu glauben, dass wir uns erst die Zeit für uns nehmen dürfen, wenn wir alles andere erledigt haben. Erledigt sind am Ende dann nur wir selbst. Denn alles andere ist doch nie wirklich fertig. Wir müssen lernen, gesunde Prioritäten zu setzen und wir müssen die Männer und die Politik stärker in die Pflicht nehmen. Denn Familie ist politisch. Das fällt uns aber schwer, weil das Narrativ der fürsorglichen Mutter sich wacker hält. Es sitzt uns tief in den eigenen und gesellschaftlichen Knochen. Wir brauchen viel mehr Diversität, wenn es um Mutterbilder geht. Und zwar bald. Denn den Müttern in diesem Land geht es nicht gut: 40 Prozent sind laut dem Müttergenesungswerk kürbedürftig und die Dunkelziffer liegt gewiss höher.
Wie hängen Selbstfürsorge und Resilienz zusammen?
Wie könnte meine eigene Resilienz, also meine persönliche Widerstandskraft, nicht mit meiner Selbstfürsorge zusammenhängen? Die sieben großen Säulen der Resilienz sind Akzeptanz, Optimismus, Verantwortungsbereitschaft, soziale Beziehungen, Lösungsorientierung, Zukunftzugewandtheit und Selbstwirksamkeit. Ohne Selbst-Bewusstsein und Selbst-Fürsorge können wir nichts davon realisieren. Es braucht den liebevollen aber ehrlichen Blick auf uns selbst und unser Leben. Es braucht den Glauben, dass wir das Leben meistern können, weil wir uns und unsere Möglichkeiten kennen. Es braucht, dass Versprechen, dass wir auch dann gut zu uns sind, wenn das Leben es nicht ist.
Hilft uns Achtsamkeit dabei zu erkennen, was wir wirklich brauchen?
Ja, auf jeden Fall — sofern wir Achtsamkeit auch als Bewusstwerdung und Entschleunigung verstehen. Denn dann hilft sie uns dabei, uns selbst (und unsere Mitmenschen) zu spüren und wahrzunehmen. Sich selbst (wieder) spüren ist logischerweise der erste Schritt, wenn es darum geht, wahrzunehmen, was wir brauchen. Achtsamkeit bedeutet für mich auch, Dinge bewusst zu tun und gegebenenfalls in Frage zu stellen. D.h. Dinge nicht einfach automatisiert zu tun, wie in einem Hamsterrad oder in einer großen Gruppe von Menschen, die zusammen in eine Richtung marschieren, ohne zu wissen wohin sie gehen. Die Frage „Was tue ich und wofür?“ ist für mich ein wichtiger Teil gelebter Achtsamkeit. Und tatsächlich können uns dabei die traditionellen Achtsamkeitspraktiken wie Mediation eine große Hilfe sein, weil uns das dazu einlädt, uns tief mit uns selbst zu verbinden und auch Bedürfnisse wahrzunehmen, die nicht an der Oberfläche wabern.
Ich möchte mehr für mich selbst tun, weiß aber gar nicht was. Was wäre der erste Schritt?
Mütter glauben oft, dass die Familie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, wenn sie aufhören zu strampeln. Sie fürchten um die kurzfristigen Konsequenzen, wenn sie sich mehr Zeit für sich nehmen. Aber was sind die mittel- bis langfristigen Folgen, wenn sie es nicht tun? Die Frage rund um das Thema Selbstfürsorge darf nicht nur sein: Kann ich es mir leisten, es zu tun? Sie muss auch lauten: Kann ich es mir leisten, es nicht zu tun? Der erste Schritt besteht darin, wertfrei zu akzeptieren, dass ich mich als Mensch selbst vernachlässigt habe oder mir gerade alles zu viel ist. Dann kann ich mir vergeben und mir selbst die Erlaubnis erteilen, das nun zu ändern. Das klappt nicht immer gleich gut — und das ist völlig ok. Manchmal ist es auch so, dass Frauen Angst haben, vor der Zeit mit sich allein. Sie haben Angst vor den Gedanken und Gefühlen, die hochkommen könnten — und vor der Leere, weil sie nicht mehr wissen, wer sie sind, wenn sie gerade keine Mutter, Ehefrau, Freundin oder Arbeitnehmerin sind. Zu lange fehlten die Räume, die frau nur mit sich füllen konnte. Die Stille auszuhalten ist nicht leicht aber erkenntnisreich. Nach und nach entdecken wir uns so wieder selbst. Wer bist du, wenn du niemand sein musst?
Wie bringst du deinen Kindern Selbstfürsorge bei?
Eigentlich würde ich dazu gern sagen, dass das ganz einfach ist, weil Kinder von Geburt an dazu berufen sind, für sich selbst zu sorgen — und das stimmt ja auch. Sie geben uns eindeutige Signale, sind aber auf unser Wohlwollen und unsere Fürsorge angewiesen. Sie kommen auf diese Welt und machen die Erfahrung höchstabhängig zu sein. Deshalb fördere ich die Selbstfürsorge meiner Kinder zum Beispiel dadurch, dass ich ihre Bedürfnisse achte und ihnen bei der Erfüllung helfe, sofern ich es vertreten kann und sie meine Unterstützung wirklich brauchen. Ich lege großen Wert auf die Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit meiner Kinder, damit sie lernen dürfen, sich und ihre Bedürfnisse eigenständig wahrzunehmen und zu erfüllen. Kurzum: Ich fördere ihre Autonomie und Unabhängigkeit (in einem geschützten Rahmen).
Menschen sind aber ebenso soziale Wesen, die immer auch ein Bedürfnis nach Verbindung und Zugehörigkeit haben — schon allein damit die Erfüllung ihrer Bedürfnisse sicher ist. Allerdings sind einige dieser Bedürfnisse sehr ambivalent. Autonomie und Bindung beispielsweise stehen für Menschen im Allgemeinen aber vor allem für Kinder oft in einem unerträglichen Spannungsverhältnis. Es ist ein Dilemma. Ich frage mich oft, wo eigentlich die Grenze zwischen Rücksichtnahme und Selbstverleugnung langläuft, denn ich würde sie meinen Kindern gern zeigen. Allerdings ist das ein schmaler Grad — zumal meine Kinder in Kindergarten oder Schule auch ganz andere Erfahrungen machen als zu Hause. Meinen Auftrag verstehe ich daher so: Ich versuche, ihre angeborene Fähigkeit zur Selbstfürsorge zu erhalten und lebe ihnen Selbstfürsorge aktiv vor. Darüber hinaus werden sie selbst herausfinden müssen, auf welchem Grad sie wandern wollen.
Über Romy Winter:
Romy Winter ist zertifizierte psychologische Beraterin, systemische Therapeutin, Resilienz-Trainerin für Erwachsene & Kinder, Doula und Autorin des Buches „Krisenfest – das Resilienzbuch für Familien“. Auf Instagram folgen ihr 25.000 Menschen, um mit und von ihr über Resilienz und das leben mit Kindern zu lernen.
Weitere Infos du auf ihrer Website und auf Instagram.
Bild Romy Winter @ Birgit Döring
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