Wir haben mit der Content Creatorin Angie Berbuer, der Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner aus Österreich und der Mutberaterin Tanja Peters über das große Wort Mut gesprochen. Was brauchen wir wirklich, um mutig durchs Leben zu gehen?
Es gibt viele Dinge, die Mut erfordern. Und ich meine nicht die Dinge, die uns als erstes in den Sinn kommen, wie Bungee-Jumping oder durch einen brennenden Reifen springen. Mut ist so viel mehr. Es sind vielmehr die kleinen Dinge, denen wir uns beständig aussetzen und die jeder von uns kennt.
Generell empfinde ich Menschen als mutig, die eine Haltung und eine Stimme haben. Denn das zieht oftmals Kritik nach sich, der man sich stellen muss. Mut hat viel damit zu tun, dass wir die Dinge und auch unsere Ängste halten können. Die Duden-Definition lautet: „Mut ist die Fähigkeit, in einer gefährlichen und riskanten Situation seine Angst zu überwinden.“ Es ist aber auch und das finde ich viel spannender „die grundsätzliche Bereitschaft angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält“.
Mut ist wie ein Muskel
Die Mutberaterin Tanja Peters sagt, Mut ist wie ein Muskel, den wir trainieren müssen. Wie viele Menschen ging sie lange über ihre Grenzen hinaus. Sie wollte keinen Zweifel an ihrer eigenen Leistungsfähigkeit lassen und entwickle eine Autoimmun-Erkrankung, verlor dabei ihre Haare. Aber sie versteckte sich nicht und machte sich nicht klein – sie ging ohne Kopfbedeckung ihrer Arbeit als Abteilungsleiterin nach. Seitdem ist Mut für sie eine Haltung, dem Leben zu begegnen. Und wer einmal damit begonnen hat, der macht sein Leben bunter und glücklicher.
„Mut ist wichtig, weil viele Dinge, die wir wollen oder die uns wichtig sind, eben nicht in unserer Komfortzone liegen.“, sagt die Coachin und Autorin. Darum erklärt sie mir, ist Mut ist die Kernkompetenz für ein freies und selbstbestimmtes Leben. Seit ihrem eigenen Erlebnis und dem Wunsch im Alter von 40 nochmal etwas ganz anders zu machen, steckt sie ihre Passion in die von ihr entwickelten Mutmuskeltrainings®, in denen sie anderen Menschen hilft, Schritt für Schritt die eigenen Selbstwirksamkeit zurückzuerobern. Denn je öfter wir Ängste überwinden, je öfter lernt auch unser System, geht doch. Wir erleben uns dadurch selbstwirksam und das wiederum steigert den Selbstwert – klingt logisch. Beim Training geht es aber nicht darum, dass wir die Angst verlieren: „Wichtig zu verstehen ist, ein starker Mutmuskel heißt nicht, keine Angst mehr zu haben. Vielmehr heißt es, bei Angst nicht mehr zu zweifeln, ob man etwas macht, sondern nur noch zu fragen, wie es machbar wäre.“
Warum siegt die Angst?
Mir brennt die Frage unter den Nägeln, warum doch so oft die Angst siegt? Frau Peters, die gerne auf großen Bühnen steht, sagt: „Weil uns niemand erklärt hat, dass Angst oft nicht funktional ist, sondern durch unsere eigenen Gedanken, Erfahrungen und Glaubenssätze entsteht, also hausgemacht ist und nicht unbedingt etwas mit der Situation oder unserem Können zu tun hat.“ Besser wäre es, bei Angst, Zweifel oder Aufregung zu fragen: Was brauche ich, damit dieser Schritt gelingen kann? Und Wer kann mich unterstützen?
Mutig sein hat für die Coachin & Trainerin viel mit Authentizität und mit, ich liebe dieses Wort, „Veränderungsfitness“ zu tun. Wer mutig lebt, hat immer wieder Lust neue Dinge auszuprobieren. „Authentizität ist sicherlich auch ein Hinweis für viel MUT, denn je weniger Masken oder Rollen jemand als Schutzschild braucht, umso mehr ist er oder sie bereit, auch Verletzlichkeit zuzulassen.“ Genau das tut Tanja Peters mit der Veröffentlichung ihres neuen Buches, in dem sie sich dem Thema Körpermut stellt.
Generell empfiehlt die Speakerin, dass wir unseren Selbstwert stärken, denn der macht uns mutiger. Das geht zum Beispiel mit einer Liste, auf der wir unsere Stärken und Talenten festhalten und die wir immer wieder ergänzen. Schon das Durchlesen und Fühlen führt dazu, dass der eigene Selbstwert steigt. Wichtig ist ihr auch, dass wir unsere eigenen Erfolge feiern oder überhaupt wahrnehmen. „Jeden Abend drei bis fünf Dinge aufschreiben, die uns gut gelungen sind. Auch damit erleben wir uns selbstwirksam und dass wiederum steigert unser Selbstbewusstsein, auch mit der nächsten Herausforderung gut klarzukommen.“ Das Schöne daran? Irgendwann kommt der Mut von ganz allein dazu, weil wir es uns wert sind, für uns einzustehen.
„Mein Feuer brennt“
Eine, die für sich und ihr Leben einsteht, andere begeistert, inspiriert und mitreißt, ist Angie Berbuer aus Köln. Angie war 21 Jahre alt als sie bei einem Unfall beide Unterschenkel verliert. Kurz darauf beginnt die Kölnerin in den sozialen Medien über ihre Fortschritte zu berichten. Tausende Menschen folgen ihr. Das Echo auf all das ist groß und sie merkt: Ihr besonderer Lebensmut gibt anderen Menschen Kraft.
Viele Menschen fragen sie heute, woher ihre Kraft kommt und wie man einen solchen Schicksalsschlag überwindet. Angie beschreibt ihre Kraft so: „Aus allem Negativen mache ich etwas Positives, das war schon früher so.“ Ich glaube, ihre große Kraft liegt auch darin, die Dinge abzuschließen und hinter sich zu lassen, statt zu hadern. Ihr Motto lautet: „Nach vorne gucken, weil hinter dir eh alles in einer Staubwolke verschwindet.“ Wer einmal mit Angie gesprochen hat, der merkt, ihr Mut und ihre Kraft sind ansteckend.
Die 23-jährige, die mit ihren Hunden in Köln lebt und erfolgreich als Content Creator arbeitet, sagt: „Die Dinge, die du nicht ändern kannst, die musst du akzeptieren. Die Dinge, die du ändern kannst, die musst du ändern.“ Es klingt fast nach einem einfachen Ansatz, aber wir alle wissen, dass es nicht immer leicht ist. Hinter dieser Wahrheit versteckt sich viel Mut – Mut den Dingen ins Auge zu sehen und das Leben bei den Hörnern zu packen.
Mutig Grenzen setzen
Das „Nein“ sagen, dass Mutberaterin Frau Peters erwähnt, liegt Angie im Blut. Sie setzt sehr bewusst Grenzen in alle möglichen Richtungen und fragt sich bei allen Situationen, was sie daraus für ihr Leben mitnehmen kann und was gut für ihre Psyche ist. Für Angie hat sich Mut bereits ein halbes Jahr vor dem Unfall und noch mehr danach entwickelt – sie musste schnell reflektieren, akzeptieren und auch hinter sich lassen. Sie war mutig und zog früh von zuhause aus, ging nach zwei Wochen im Krankenhaus in den Reha-Raum, packte die Hanteln und trainierte ihre Schultern und auch nach dem Unfall ging es nach zwei Monaten direkt wieder in eine eigene neue Wohnung. „Ich musste mich nach dem Unfall viel mehr trauen, um meine eigenen kleinen Erfolge haben zu können. Das habe ich auch gemacht, damit bei anderen Menschen ein Feuer entfacht wird und sie mutiger werden.“
Probleme sind für die Kölnerin da, um Lösungen zu finden. Aufgrund ihrer Behinderung hat sie immer wieder mit vielen kleinen und großen Problemen zu tun, dennoch sagt sie: „Ich nehme fast alle Herausforderungen des Lebens an und schaffe mir meine kleinen Erfolge“ Ich glaube es ihr aufs Wort und kann nur sagen, diese junge Frau steckt dazu an, das Leben in die Hand zu nehmen. „Aufgeben“, sagt sie, „war nie eine Option.“
Ich will von ihr wissen, wie wir mutig Grenzen setzen können. Angie erklärt mir, dass wir lernen müssen, ehrlich miteinander zu sein. „Viele Menschen lügen, nicht weil sie es wollen, sondern weil es im ersten Schritt einfacher ist.“ Es hat viel mit uns selbst und unserem Selbstwert zu tun. „Wenn wir einmal anfangen für uns selbst einzustehen und an unserem Selbstwert zu arbeiten, dann wird es einfacher für uns und in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir führen.“
Mut ist ein Prozess
Für die Psychoanalytikerin, Autorin und Univ. Professorin für Prävention und Gesundheitskommunikation Rotraud A. Perner aus Österreich ist Mut vor allem ein dialektischer Prozess. Ein Abwägen zwischen den Anteilen, die uns hindern und warnen und dem Wachstumsschub, der uns sagt „das muss doch gehen“. Je routinierter wir sind, desto schneller läuft dieser Prozess ab. Mut ist das Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Gegensatzpaaren. „Viele Menschen definieren sich als feige oder unsicher, dabei müssen wir erst mal selbst spüren, ob wir überhaupt so sind.“
Frau Perner, die das Buch „Mut das ultimative Lebensgefühl“[1] geschrieben hat, geht es weniger um ein Üben des Mutigseins, sondern mehr um ein Nachfühlen. Sie erklärt mir, wie das in der Therapie abläuft. „Ich frage dann meine KlientInnen: Wirklich nie, sie haben wirklich nie Mut?“ Meist übernehmen die Menschen nämlich die Zuschreibungen der Autoritätspersonen, statt die eigene innere Warnstimme ernst zu nehmen. Oftmals übertragen unsere Eltern etwas auf uns, was sie selbst nicht gut gemacht haben. Frau Perner ergänzt: „Es ist wichtig den Menschen, die Mechanismen dahinter zu erklären, statt zu denken man hätte keinen Mut.“
Sich selbst und die Welt verstehen
Ich lerne im Gespräch mit Frau Perner: Mut entwickelt sich, wenn jemand da ist und uns im verstehenden Miteinander fördert und hält. „Das Wesentliche ist, sich selbst und die Welt verstehen zu lernen und zu erkennen, dass hat mich gefördert und das hat mich behindert. Menschen haben eine umfangreiche Biographie der Behinderungen und sie glauben, dass das normal ist und erkennen nicht das Konkurrenz- und Machtspiele mit dabei sind.“
Mut ist somit auch das Ergebnis einer routinierten Selbsterforschung und dem eigenen inneren Mittelpunkt. „Mut ist ein Balanceprozess. Wir balancieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten.“ Was der Psychoanalytikerin sehr wichtig ist: „Wir werden zum binären Denken erzogen, also richtig oder falsch. Die Möglichkeiten dazwischen werden uns verboten. Weil Eltern möchten, dass Kinder kontrollier- und einschätzbar sind.“ Das Fördern, so empfiehlt sie, müssen wir bei uns selbst üben, sodass wir unsere Möglichkeiten spüren. „Wir müssen bewusst wahrnehmen, was ist mir wichtig, wer will ich sein und wo verletze ich meine innere Ethik.“ In der flüchtigen und schnelllebigen Gesellschaft machen sich viele Menschen Vorwürfe, dass sie nicht wissen, wie sich entscheiden sollen. Frau Perner mahnt: „Mut sollte nicht mit Draufgängertum verwechselt werden. Wir brauchen immer unser Gefühl als Ratgeber – stimmt da alles oder stimmt da was nicht.“
Mut braucht Zeit
Mut braucht Zeit, weil Gefühle einfach die besten Ratgeber sind. Frau Perner empfiehlt sich zu fragen: „Was wäre das Schlimmste, was eigentlich passieren kann?“ Sie verweist auf die „Kopfbewohner“[2] aus Mary Gouldings gleichnamigem Buch – diesen kann man im Inneren Dialog sagen: „Danke, dass du mich warnst, aber ich bin erwachsen und kann selbst aufpassen und wenn ich dich brauche, dann frage ich dich.“ Die Supervisorin erläutert: „Mut beginnt immer mit der Wahrnehmung, dass etwas nicht stimmt.“ Ihrer Meinung nach nehmen die meisten Menschen war, dass etwas nicht in Ordnung ist, dennoch machen sie weiter. Auch weil die Zeit, in der wir leben so schnelllebig ist. „Viele Menschen reagieren körperlich, es dreht ihnen den Magen um, aber sie überspielen es, weil der innere Dialog dazu fehlt.“
Einer ihrer Tipps ist, dass wir uns Theaterstücke mit einer kritischen Brille anschauen. „Ich denke beim Anschauen immer mit, wie legt es der Regisseur an und wie könnte man es auch anders spielen – so kommt man zu Alternativen.“ In der systemischen und transaktionsanalytischen Therapie heißt diese Technik Drehbuchschreiben. Der Grundgedanke dabei ist, dass vieles im Leben wie im Film passiert. Statt in Angst oder Panik zu verfallen, können wir im Kopf die Situation drehen. Die von Frau Perner entwickele Methode heißt PROvokativ-Methodik. In Kürze: Eine Kampfsituation wird nicht als Kampf, sondern als Spielsituation interpretiert, wodurch die betreffende Person eine andere Ausstrahlung bekommt.
Wir finden Mut, macht vor allem eins: Spaß. Denn wenn wir mutig über uns hinauswachsen, entdecken wir immer wieder neue Facetten an uns, die das Leben schillern lassen. Wenn wir uns die Zeit nehmen, in uns hineinzuspüren, um herauszufinden, was uns bewegt und was wir wirklich brauchen und die Schnelllebigkeit für einen Moment vergessen – dann finden wir Mut und Tatkraft für die wichtigen Dinge. Alles andere dürfen wir getrost liegen lassen. Wir können außerdem Mut- und Inspirationsgeber für andere sein, denn wir alle brauchen jemanden, der an uns glaubt, uns hält und uns zeigt: es geht!
[1] Rotraud A. Perner: „Mut das ultimative Lebensgefühl“, Amalthea Signum Verlag, 2016
[2] Mary Goulding: „Kopfbewohner oder: Wer bestimmt dein Denken?“, Junfermann Verlag, 2011.
Titelbild @ Elia Pellegrini
Tanja Peters @ Sandra Birkner Photography
Angie Berber @ Deborah Plath
Rotraud Perner @ Robin N. Perner
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