In diesem Interview erzählt die sehr besondere Ashtanga-Yogalehrerin Annette Hartwig von ihrem Weg zum Yoga und ihrer eigenen Persönlichkeit.
Wie sah dein Weg zur Yogalehrerin aus?
Mitte der Neunziger war Yoga in Deutschland eine exotische Frucht und überhaupt nicht Mainstream. Eine Freundin nahm mich zu einer Yogastunde mit und ich wusste sehr schnell, das ich nach Indien reisen werde, um meinen Wissensdurst über Yoga, Philosophie und Kultur zu stillen. Damals war ich 23 Jahre alt. Meine erste Ausbildung fand auf Bali statt. In den kommenden Jahren folgten weitere Ausbildungen in Indien. Zurück in Deutschland begann ich zu unterrichten. 2004 wurde ich Co-Gründerin des Yogaraum Hamburg, dem ersten Vinyasa Yoga Studio in Hamburg. 2006 etabliere ich das erste Mysore-Morning-Programm. Anfangs wurde ich belächelt, doch ich habe immer daran geglaubt, und viel Ausdauer, Herzblut und Commitment in den Aufbau gesteckt. Zusätzlich arbeitete ich als freiberufliche Grafik-Designerin und nebenbei in Cafés. Mein Yogaweg wurde immer klarer und ich traf meine Lehrerin & Mentorin Dena Kingsberg. Seit 12 Jahren leite ich yogabija, eine Plattform für Retreats, Workshops und Immersions, in Portugal und Deutschland.
Wie würdest du deine Persönlichkeit beschreiben?
Persönlichkeit ist für mich nicht statisch, sondern kann sich im Laufe des Lebens erweitern und verändern. Sicherlich bringe ich Anteile mit, welche genetisch, kulturell oder erzieherisch in mir gefestigt wurden und gleichzeitig dürfen aktuelle Erlebnisse neue Qualitäten in mir fördern.
Meine Persönlichkeit, das ist eine gute Frage. Kreativ. Nährend. Intuitiv. Feinfühlig. Ehrlich. Warm. Optimistisch. Entdeckungsfreudig.
Was hat dir dabei geholfen ganz du selbst zu sein?
Seit meiner Kindheit trage ich eine tiefe Sehnsucht in mir, die glänzend-glatte Oberfläche zu verlassen um herauszufinden wer ich bin und wie das Leben vollkommen und lebendig sein kann. Diese Sehnsucht lässt mich meine Angst vergessen.
Jede neue Situation, jede (un-)bekannte Begegnung, jede Reise oder jedes Ritual trägt dazu bei, mich immer wieder wahrzunehmen und zu spüren. Selbstreflexion hilft mir, mehr bei mir selbst anzukommen und zu lauschen welche Prioritäten, Bedürfnisse, Werte und Visionen wichtig sind und ob ich mich diesen annähere oder mich davon entferne.
Je mehr wir in unserer eigenen Kraft sind, desto einfacher wird es eigene Bedürfnisse zu spüren und uns zu erlauben diese auszuleben. Ein klarer Geist und ein offenes Herz navigieren dabei den schmalen Grat zwischen Gewohnheit, Strategie oder tatsächlichem Bedürfnis.
Einen inneren wie auch äußeren Anker empfinde ich dabei als sehr hilfreich. Bewusste Pausen im Alltag, um mich spüren und wahrzunehmen. Soviel Zeit wie möglich in der Natur verbringen. Umgeben von Menschen in dessen Präsenz Momente bedingungslos fließen und ebenfalls denen, die mich hinterfragen und herausfordern. Ein unerschütterliches Vertrauen in das Leben an sich.
Oft sind es Grenzsituationen, welche kompromisslos alles auf den Kopf stellen und uns fragen, was wirklich wichtig ist und wer wir sind. Für mich war eine lebensbedrohliche Erkrankung in 2018 ein Katalysator, um noch mehr in mir selbst zu ruhen.
Ich habe gelernt im individuellen Chaos meiner Befindlichkeiten und inneren Widersprüchen verletzlich zu sein und mich dabei zu akzeptieren. Mich mit potenten Werkzeugen wie z.B. Yoga, Meditation, Spiritualität selbst halten zu können oder nach Unterstützung in Form von Freunden, Familie, Coaching und Therapie zu fragen.
Wie formt/verändert Yoga unsere Persönlichkeit?
Yoga ist so vielschichtig. Am Anfang der Yogareise entsteht nach dem Üben meist eine angenehme Entspannung und ein Gefühl des Wohlseins, welches verständlicherweise immer wiederholt werden möchte. Das gute Gefühl und die Entspannung sind wunderbar und keineswegs zu unterschätzen. Später entsteht ein differenzierteres Verständnis für die gesundheitliche Auswirkung von Yoga auf mentaler und physischer Ebene wie z.B. hohe Konzentrationsfähigkeit, tiefere Atmung, Mobilität, Kraft und Ausdauer.
Yoga kann uns als Methode mehr Struktur und Halt geben und ist gleichzeitig ein Behälter für die Wahrnehmung unserer Gewohnheiten, für Muster und unser Bewusstsein. In dem Moment, wo wir etwas Neues ausprobieren, wird gleichzeitig etwas über uns selbst enthüllt: Versuche ich auf alle Kosten etwas zu erreichen? Übergehe ich die Anzeichen meines Körpers? Kann ich eine Asana/eine Form empfangen anstatt sie zu machen? Bin ich frustriert, wenn ich eine Übung “nicht kann”? Halte ich zurück weil ich Anstrengung oder Committment scheue? Was möchte heute entdeckt, gesehen oder gehört werden?
Diese innere Konversation ist eine Einladung uns selbst immer wieder neu zu begegnen und die Fülle an spontanen Facetten mit Hingabe und mehr Gelassenheit zu leben.
Das würde ich als spirituellen Aspekt bezeichnen. Ein Empfangen jeglichen spontanen Ausdrucks (Muster, Gedanken, Gefühle, Körperform) und ein Loslassen wird interessanter als die vermeintlich korrekte Ausführung einer Asana oder das Erreichen eines Ziels. Vielleicht tritt ein intimes, bedingungsloses Lauschen einfach so und unangestrengt in den Vordergrund. Ein Sein statt Machen. Wir können uns in unserer Menschlichkeit und als Person wahrnehmen und gleichzeitig erfahren, dass wir mehr sind als das. Nämlich pures Bewusstsein. Der leise, zarte, dennoch kraftvolle Hintergrund, welcher immer da ist.
In diesem durchlässigen, weiten und offenen Raum sind wir nicht mehr abhängig von Raga (dem Verlangen etwas zu wiederholen) oder Dvesha (eine Ablehnung dessen, was ist) und können die natürliche, innewohnende Kraft in uns erleben. Jeden Tag können wir neu wählen, ob wir mit unserer innewohnenden Kraft verbunden sind und uns selbst treu bleiben. Oder ob wir unser Licht von aussen dimmen lassen oder uns selbst klein halten.
Welche Yoga-Persönlichkeit hat dich auf deinem Weg beeinflusst?
Jede Begegnung auf dem Yoga-Weg, unabhängig ob Schüler oder Lehrer, hat mich auf ihre einzigartige Art & Weise beeinflusst. Besonders tief berührt und inspiriert hat mich meine Lehrerin Dena Kingsberg aus Australien. Das Beste in mir ist ein Resultat von ihr. Seit über 20 Jahren haben wir eine wunderbare, enge Beziehung welche geprägt ist von Verbindlichkeit, Leichtigkeit & Tiefgang, Vertrauen und gegenseitigem Support. Diese tiefe zwischenmenschliche Verbindung samt aller inkludierten Herzensqualitäten werden mich mein Leben lang begleiten.
Hast du ein Lebensmotto?
Es gibt keinen Umweg oder den einen, richtigen Weg. Es gibt nur unsere persönliche, individuelle Reise. Also: Enjoy the ride, folks!
Anstatt Lebensmotto habe ich oft unerwartete Songtexte im Kopf. Quasi ein zufälliger Ohrwurm. Im Moment ist es “Don’t stop me now because i am having such a good time” von Freddy Mercury.
Wenn du nur eine Übung/Asana machen könntest, welche wäre das und warum?
Einfach nur Sitzen. Lauschen. Und dem spontanen Ausdruck folgen. Die Vorhersehbarkeit, das Wissen und die Kontrolle abgeben. Und den reichhaltigen Strömungen des Lebens vertrauen – inklusive aller Glücksmomente, Herzschmerz und dem, was dazwischen liegt.
Was möchtest du mit deiner Arbeit/in deinen Stunden ausdrücken?
Den Spannungsbogen zwischen dem Wunsch nach Weiterentwicklung und einem Ankommen in der Gegenwart so anmutig und bodenständig wie möglich zu unterstützen.
Einen Raum zu schaffen, wo alle willkommen sind – genau so, wie sie gerade sind.
Eine Einladung zu mehr Souveränität, Akzeptanz, Lebendigkeit, Klarheit, Mitgefühl & Liebe.
Über Annette Hartwig:
Annette Hartwig ist seit 1997 Ashtanga-Yoga-Praktizierende und unterrichtet seit über 20 Jahren international Kurse. Sie ist FRC® Mobilitätsspezialistin, MindBody-Therapy Practitioner sowie Schülerin und Assistentin der bekannten Lehrerin Dena Kingsberg. Viele vertiefende Studien und Trainings bei Richard Freeman, Clive Sheridan, Emil Wendel und mehrere Reisen nach Mysore haben ihre eigene Praxis bereichert. Annette hat 6 Jahre lang eine Yogaschule in Hamburg geleitet und dort erfolgreich das erste Mysore-Programm aufgebaut. Sie ist Co-Direktorin von yogabija und Mitbegründerin des Dawn Collective Yoga Shala in Arrifana, Portugal.
Titelbild @ Yvonne Schmedemann
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