In dieser Ausgabe haben wir mit Susen Stanberger, systemische Beraterin, psychodynamische Coachin und Herausgeberin über Nähe gesprochen. Für alle Abonenntinnen gibt es neben dem Artikel eine Audio-Datei zum Anhören mit ihren Tipps.
Warum ist Nähe ein wichtiger Bestandteil für ein erfülltes Leben?
Auf der Bedürfnispyramide von Maslow rangiert unser Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit auf Platz 3, direkt nach den Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken und dem Bedürfnis nach Sicherheit. In der Psychoanalyse heißt es: Ohne ICH kein DU. Es bedeutet, dass wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind, diese oft Spiegel sind für unsere eigene Identität. Erst im Austausch und Vergleich mit anderen können wir uns selbst verorten und einordnen, was uns als Individuum ausmacht.
Wir Menschen sind soziale Wesen und könnten ohne den Kontakt zu anderen Menschen nicht überleben. Dazuzugehören ist so wichtig für uns, dass wir dafür manchmal merkwürdige Dinge tun. Jugendliche lassen sich z.B. auf waghalsige Mutproben ein, damit sie endlich der coolen Gruppe angehören. Ein ganzes Team deckt das strafbare Fehlverhalten eines Einzelnen, um den Zusammenhalt nicht zu gefährden. In der Paarbeziehung stimmt die Partnerin aus Gefälligkeit Sexualpraktiken zu, die sie eigentlich nicht möchte. Nur, um Nähe zu bekommen oder eben Distanz zu vermeiden.
Titelbild @ Nachlik Photography
Wieviel Nähe ist gut für uns?
Das Maß, das wir an Nähe brauchen, um ein erfülltes Leben zu führen, ist sehr individuell. Es hängt vor allem mit unserer Persönlichkeit, aber auch mit unseren bisherigen Erfahrungen in Zusammenhang mit Nähe, Bindung und Verlust zusammen. Während die einen gern alleine sind, viel Energie aus sich selbst ziehen und weniger proaktiv den Kontakt zu anderen suchen, brauchen andere die Interaktion und den Austausch, um sich überhaupt lebendig zu fühlen. Die Spannbreite ist riesig, auch in Bezug darauf, wie wir Nähe empfinden. Sehr schön deutlich wird das mit Hilfe des Thomann-Riemann-Modells, welches wir im Coaching sehr gern einsetzen.
Es geht darum, sich auf zwei Dimensionen selbst einzuordnen:
- Wieviel Nähe bzw. Distanz brauche ich?
- Wie sieht für mich ein gutes Maß zwischen Veränderung und Kontinuität aus?
Sich in dem Modell selbst zu verorten macht die eigenen Bedürfnisse bewusst. Interessant ist dann, sich Fragen zu stellen, wie.
- Wo stehe ich aktuell? Wo würde ich gerne stehen?
- Was müsste ich tun, um dem Veränderungsimpuls nachgehen zu können?
- Wo ist mein Partner im Unterschied zu mir? Sind wir ähnlich oder anders? Und wie ist das für mich?
- Wie reagiere ich auf Gegenpole, d.h. wenn Menschen ganz andere Bedürfnisse haben als ich?
- Was daran löst z.B. Angst oder Antipathie in mir aus und welche Muster entstehen dadurch vielleicht in der Paarbeziehung?
Wie entsteht Nähe im beruflichen und privaten Kontext?
Zunächst würde ich gerne zwischen Beruf und Privatleben trennen. Im beruflichen Kontext von Nähe zu sprechen, gerade wenn es um die Zusammenarbeit in einem Team geht, kann leicht missverstanden werden. In unserem Job sind wir in einer Rolle und zeigen dort nur Facetten unserer Persönlichkeit. Diese Professionalität ist gut und wichtig.
Ja, unser Arbeitsplatz ist auch ein sozialer Raum, in dem wir uns zugehörig fühlen möchten, unser Bedürfnis nach Nähe lässt sich dort jedoch nur bedingt erfüllen. Das wird gerne vergessen. Familiengeführte Unternehmen tendieren zu einer Unternehmenskultur, die gerne als familiär bezeichnet wird. Die Dynamiken, die wir dann beobachten, ähneln der von Familien. Im Unternehmenskontext ist dies allerdings wenig förderlich, gerade dann, wenn es darum geht, unangenehme Dinge zu verkünden oder bewusst in eine Auseinandersetzung zu gehen. Auch Kündigungen werden eher mit Verrat gleichgesetzt als mit Weiterentwicklung. Deshalb würde ich Nähe im beruflichen Kontext gern durch Verbundenheit ersetzen.
Die Verbundenheit mit den Menschen und den gemeinsamen Aufgaben und Zielen, das sogenannte WIR-Gefühl, ist ein wichtiger Faktor für Zufriedenheit und Mitarbeiterbindung. Es entsteht durch einen gemeinsamen Sinn, zu dem wir etwas beitragen können, wenn wir als Menschen gesehen werden, uns akzeptiert, unterstützt und verstanden fühlen.
Gerade in Zeiten von Homeoffice und hybridem Arbeiten ist es gar nicht so leicht, dass dieses Gefühl entsteht. Oft kommen wir nur in Kontakt, wenn es einen konkreten Arbeitsanlass gibt. Die spontanen, informellen Gespräche sind weniger geworden. Manche finden es gut, manche leiden. Auch hier gilt also: die Bedürfnisse sind sehr verschieden. Während die einen im Homeoffice aufblühen, weil sie ihre Aufgaben endlich ohne ständige Ablenkung erledigen können, nutzen andere jede Möglichkeit, doch lieber ins Büro zu fahren, um mit den Kolleg*innen in Kontakt zu kommen. Dabei spielt es eine wesentliche Rolle, welche Lebenssituation und sozialen Kontakte wir außerhalb der Arbeit haben.
Und in privaten Beziehungen?
Nähe spielt in Familie, Freundschaft und in Paarbeziehungen eine zentrale Rolle. Wenn wir keine Nähe empfinden, wird es vermutlich keine tragfähigen, tiefen Beziehungen zu diesen Menschen geben. Doch wie definieren wir Nähe eigentlich? Wann fühlen wir uns jemandem wirklich nah? Ich nehme mich selbst einmal als Beispiel.
Ich fühle mich zum Beispiel dann am wohlsten, wenn ich möglichst viel mit den Menschen zusammen bin, die mir wirklich wichtig sind und denen ich wichtig bin. Deshalb wäre eine Wochenendbeziehung z.B. nichts für mich. Tagsüber oder auch nur abends mit dem Partner zusammen zu kommen, an dessen Leben und Erleben teilhaben zu können und meines zu teilen, tut mir gut. Und es fehlt mir, wenn ich längere Zeit auf Geschäftsreise bin. Nähe ist für mich aber nicht zwingend mit körperlicher Nähe verbunden. Nähe kann ich auch in Freundschaft stattfinden. Zum Beispiel, indem man aneinander denkt, sich um den anderen bemüht, aufeinander achtet, echtes Interesse zeigt, zuhört, sich gegenseitig unterstützt und füreinander da ist. Dann spüre ich: Du bist mir wichtig, ich bin für Dich da.
Wenn das Bedürfnis nach Nähe aber so unterschiedlich ist, ist das in der Paarbeziehung dann nicht schwierig?
In seinen “Fünf Sprachen der Liebe” hat John Gottmann beschrieben, dass wir Liebe auf sehr unterschiedliche Art ausdrücken und verstehen, nämlich in Form von 1. Anerkennung und Lob, 2. Zweisamkeit, 3. Geschenke, 4. Hilfsbereitschaft und 5. Zärtlichkeit. Es wird deutlich, dass Nähe im Sinne von körperlicher Berührung nicht für jede und jeden ausschlaggebend ist. Gottmann unterscheidet ganz bewusst zwischen Zweisamkeit und Zärtlichkeit. Zweisamkeit meint gemeinsame Erlebnisse, sich Zeit füreinander nehmen, Zärtlichkeit dagegen die intime Begegnung und Sex.
Hier kommt es nicht selten zu Missverständnissen zwischen den Partnern. Der eine braucht Zweisamkeit, quasi als Vorspiel, um überhaupt Zärtlichkeit geben und empfangen zu können. Für den anderen ist vielleicht Sex die Voraussetzung, um sich mit dem Partner verbunden fühlen zu können. Es treffen also ganz unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse aufeinander. Meist ist sich das Paar darüber gar nicht bewusst und es kommt zu bitteren Enttäuschungen. Hier kann es helfen, sich zunächst selbst die Frage zu stellen: Was brauche ich eigentlich? Und dann ins Gespräch mit dem Partner zu kommen.
Über Susen Stanberger:
Susen Stanberger ist Mutter von drei Kindern, systemische Beraterin und psychodynamische Coachin für Führungskräfte und Teams, Autorin und Verlegerin von Lernspielen. Sie hat das Projekt „Die Grasbeisserbande“ mit Büchern und Ausstellungen zugunsten der Kinder- und Jugendhospizarbeit ins Leben gerufen.
Titelbild @ Nachlik Photography
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