Close up Mann und Frau küssend. Und Bild Jeannette Bohne

„You can have it all“ – ich habe mehrere Lieben

Redakteurin Jeannette aus Berlin erzählt in diesem Artikel, warum sie glücklicher ist, seit sie nicht mehr „die Eine“ für „den Einen“ sein will und fragt sich, ob es statt einer großen, nicht mehrere Lieben geben kann. Ein Plädoyer für Liebe, offene Beziehungsmodelle und den Mut so zu leben, wie wir es wollen.

Als ich ihn getroffen habe, wusste ich: das ist es! Er ist der Eine. Der Blitz hat eingeschlagen, das Schicksal hat uns zusammengeführt. Liebe auf den ersten Blick. Seelenverwandte. Angekommen im Leben. The One.

Die eine große Liebe …

Egal ob bei Netflix, Promiflash oder im Freundeskreis, die große, wahre Liebe wird fast immer als das schicksalhafte Zusammentreffen von zwei Menschen beschrieben. Zwei Hälften, die zusammen Eins werden. Das fehlende Puzzleteil. Die Eine, für den Einen. Egal, ob wir uns in Bars drapieren oder bei Tinder, Bumble oder Hinge swipen, die Idee, dass irgendwo da draußen die eine perfekte Person auf uns wartet ist omnipräsent. Und wer mit Mitte 30 diese eine ganz besondere Person noch nicht gefunden hat, hat sich einfach nicht genug Mühe gegeben.

Oder wie Daniel Schreiber in seinem Buch „Allein“ so treffend beschreibt: „(…) das Fehlen einer Liebesbeziehung wird in der Regel als solch ein persönliches Scheitern wahrgenommen, als eine Folge mangelnder Attraktivität, mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs, mangelnder psychischer Fitness. Diese in der Luft liegenden Annahmen schlagen einem überall entgegen, wenn man allein lebt, nicht zuletzt in den Gesichtern anderer Menschen, in ihrem Mitleid, ihrer Scham oder ihrer heimlichen Freude, dass es ihnen besser geht.“

Die romantische Liebe zwischen zwei Menschen ist als große Erzählung nicht tot zu kriegen und lässt sich ganz einfach zusammenfassen: zwei Menschen zusammen: gut.

Alles andere: nicht so gut. Merkwürdig. Falsch.

Aber kann die eine große Liebe nicht auch viele große Lieben sein? Was, wenn es nicht das eine perfekte Puzzleteil gibt, sondern, je nach Lebenslage und -phase viele Einzelteile?

Anfang des Jahres war ich bei einer Psychedelic Breath Session, geführt von Eva Kaczor und atmete mich durch die letzten Jahre, durch die Abschiede, nach 10 Jahren war ich gerade das erste Mal wieder single – und durch die Neuanfänge, die Menschen, die gerade neu in mein Leben traten. In der letzten intensiven Atmenphase, mein Gesicht und meine Hände waren schon taub, mein Körper im Ausnahmezustand, wurde ich plötzlich von Licht geflutet. Ich fühlte mich wie in Liebe getaucht und eine Stimme in meinem Kopf wiederholte immer wieder: You can have it all.

„Nach der Endentspannung, nachdem sich meine Hände und mein Gesicht wieder entkrampft hatten und ich ins „echte“ Leben, ins nasskalte Januarberlin zurückkehrte, blieb genau das: Liebe und die Erlaubnis „You can have it all“, ich darf so lieben und leben, wie ich das möchte.“

Jeanette


Viel Liebe und viele Lieben.

Einer lebt zwei Flugstunden weg, einer fast um die Ecke, eine ist vier Stunden entfernt (wenn der Zug pünktlich ist) und eine weitere große, kleine Liebe treffe ich jeden Tag. Ich lebe mit viel Liebe und vielen Lieben. Manche sind seit 18 Jahren in meinem Leben, andere blieben nur 2 Monate. Viele Puzzleteile, die zu meinem Puzzle passen – aber nicht um eine Lücke zu füllen, sondern um das Motiv ständig zu verändern. 

Da ist Liebe die Freundschaft ist und da ist Liebe, die vor allem körperlich ist. Ich lebe in Mehrbeziehungen. Jede ist in dem Moment, in dem sie stattfindet, absolut und wahrhaftig – aber eben nicht wichtiger als eine der anderen. Es gibt keine Primärbeziehung. Wir sind alle zu Gast im Leben des anderen. Für mich bedeutet diese Lebensentscheidung große Freiheit, sie gibt mir die Möglichkeit meine Bedürfnisse und Erwartungen aufzuteilen. Es gibt kein „The One“, mit dem ich alles teilen muss und andersrum muss ich auch nicht alle Erwartungen erfüllen, nicht die „Eine“ sein. Authentizität ersetzt Perfektion. Denn auch die vermeintlichen Fehler der anderen sind viel einfacher anzunehmen und zu akzeptieren, wenn sie von einem „Freund“ kommen, aber nicht vom one and only perfect Lebenspartner.

Es fehlt das absolute Commitment, die Verpflichtung sich „in guten wie in schlechten Zeiten“ an die Seite von einem Menschen zu stellen. Aber was Druck nimmt, hinterlässt auch eine Lücke, denn diese Form der Beziehungsführung schließt eben auch aus, dass der Partner einen ertragen muss. Schreckliche Launen, Stress und Überforderung, Sonntagsdepressionen – nichts davon kann ich auf meinen Partner abladen, niemand muss mich in den schlechten Zeiten ertragen. Umso schöner, dass es dann doch manche wollen. Wenn es keinen Beziehungsvertrag gibt, dann ist jede Begegnung und jedes Telefonat ein bewusster Akt, eine Entscheidung füreinander.

Licht und Schatten.

Natürlich gibt es auch Trennungen. Meist ohne „wir müssen reden“ Einleitung und gemeinsamen Tränen am Küchentisch. Die Trennungen, die ich erlebe sind leiser. Manche laufen einfach aus. Damit muss man umgehen können. Ohne feste Beziehung kann sich die Angst allein zu bleiben, nicht genug oder falsch zu sein, verstärken. Das Kommen und Gehen ohne das Bleiben kann sich wie eine Absage an die eigene Person anfühlen. Hier hilft es mir ehrlich zu reflektieren: vermisse ich den Menschen, oder vermisse ich die Aufmerksamkeit, den Sex oder einfach die Tatsache, dass jemand da war? Und: wäre ich bereit gewesen anders zu leben, damit er bleibt? Wenn ich von jemanden geliebt werden will, bin ich dann auch wirklich bereit im gleichen Maße zurückzulieben?

Ohne festen Partner zu leben, bedeutet für mich vor allem ein guter Partner für mich selbst zu werden. Alles, was ich in der Vergangenheit von dem „Einen“ erwartet habe, tue ich für mich: ich nehme meine Bedürfnisse ernst, akzeptiere meine Grenzen und liebe mich meistens exakt genauso, wie ich bin. Und mit so viel Liebe gefüllt, gibt es nichts Schöneres als genau diese an viele andere weiterzugeben. Also yes! I can have it all. Und ich liebe es.

Ist eine Mehrbeziehung das richtige für dich?

> Du bist zufrieden mit dir und deinem Leben und denkst nicht, dass dir etwas Essenzielles fehlt.

> Du kannst gut mit dir allein sein und auch negative Gefühle akzeptieren und vorbei ziehen lassen.

> Du hast  keine Probleme damit deine Lebensentscheidung auszusprechen (vor allem nicht vor potenziellen neuen Beziehungspartnern).

> Du weißt, dass Sex Nähe schafft und kannst das genießen, ohne es mit romantischer Liebe gleichzusetzen.

> Du kannst deine Bedürfnisse gut kommunizieren und Grenzen setzen.


Titelbild @ Unsplash
Bild Jeannette @ Helge Hoffmann


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