In dieser Ausgabe dreht sich alles um das große Thema Persönlichkeit. Wer sind wir und was zeichnet uns aus? Bleiben unsere Eigenschaften ein Leben lang gleich oder können wir unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens ändern? Ich habe dazu mit der Psychologischen Psychotherapeutin, Senior Coachin und Supervisorin Beate West-Leuer und der Emotionsforscherin und Neurowissenschaftlerin Dina Wittfoth gesprochen.
Eines ist klar und wie ich finde wunderschön: Kein Mensch ist wie der andere! Es gibt viele Gemeinsamkeiten, manchmal entdecken wir Ähnlichkeiten, aber im Grunde sind wir alle verschieden und das macht unsere Welt bunt, unsere Beziehungen abwechslungsreich und das Leben interessant.
Was ist Persönlichkeit?
Wir alle haben verschiedene Eigenschaften, der eine ist verträumt, der andere hellwach, der nächste offen, der Nachbar verschlossen, die Schwester neurotisch, der Vater gewissenhaft – all diese Eigenschaften formen ein Bild unserer Persönlichkeit. Nach Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Autor zahlreicher Bücher, sind es die Eigenschaften des Fühlens, Denkens und Handeln die unsere Persönlichkeit bilden*. Wie erfasst man nun, welche Persönlichkeit man hat und ist diese veränderbar? Im Altertum war die Lehre von den Temperamenten bekannt, die auf Hippokrates zurück geht. Hier wurden die Grundpersönlichkeiten anhand der „Vier-Säfte Lehre“ begründet, also das Verhältnis der Menge an Körpersäften wie Blut, Schleim, schwarzer Galle und gelber Galle. Heute beschränkt sich die seriöse Persönlichkeitspsychologie Gott sei Dank auf standardisierte Fragebögen.
Das Big Five- und das Riemann-Thomann-Modell
Die Persönlichkeitspsychologie geht davon aus, dass Menschen aus einer einzigartigen Kombination von Merkmalen bestehen – diese sind voneinander abgrenzbar, überlappen sich aber auch. Der bekannteste Test ist vielleicht der „Big-Five-Persönlichkeitstest“, den wir euch in einem ganzen Artikel genauer vorstellen. Er beruht auf den Grundfaktoren Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Mit Hilfe des Tests kann jeder und jede für sich herausfinden, in welchem Maße man extrovertiert oder gewissenhaft ist und bekommt so eine Art Persönlichkeitsprofil. Oftmals erfahren wir hier Dinge, die wir vielleicht selbst noch nicht sehen konnten, die Menschen aus unserem Umfeld aber bereits kennen. Einen Test, den ich persönlich interessanter finde als den „Big-Five-Test“, ist der Riemann-Thomann Test, den ich in meiner Coaching-Weiterbildung kennengelernt habe. Das Riemann-Thomann-Modell geht von vier verschiedenen menschliche Grundausrichtungen aus: das Bedürfnis nach Nähe, Distanz, Dauer und nach Wechsel. Den Grundstein für das Modell legte der Psychoanalytiker Fritz Riemann 1961, der Paartherapeut Christoph Thomann hat es 1988 weiter entwickelt.
Kein Mensch ist eine Insel
Eine Frage, die mich umtreibt und die kaum ein Buch beantwortet: Was brauchen wir denn eigentlich, um eine ganz eigene Persönlichkeit zu entwickeln? Die Psychologische Psychotherapeutin Beate West-Leuer aus Düsseldorf sagt: „Jeder Mensch hat oder ist eine ganz eigene, individuelle Persönlichkeit. Wie sich diese entwickelt? No man is an island, entire of itself (John Donne 1624). Kein Mensch ist eine Insel, kein Mann und auch keine Frau. Jedes Ich benötigt ein Du.“
„Und so entwickeln wir auf der Basis angeborener Dispositionen und im ständigen sozialen Austausch mit bedeutsamen anderen Menschen eine ganz eigene Persönlichkeit.“
Beate West-Leuer
Für Dina Wittfoth, Emotionsforscherin und Neurowissenschaftlerin, die jeden Monat bei uns im Podcast „Frag Dina“ zu Gast ist, sind es Schutz, Fürsorge und Zuwendung. „Wir kommen als ganz eigene Persönlichkeiten auf die Welt, aber um uns optimal zu entwickeln, benötigen wir diese drei Zutaten – sowie Zutrauen und Herausforderungen. Flexibilität, Humor, Selbstregulationsfähigkeit und gute Beziehungen zu anderen sind ebenfalls hilfreich.“ Mir wird klar, dass ich beim Schreiben des Artikels zwar an mein Elternhaus und meine erste Bindungsperson gedacht hatte, aber nicht an all die anderen Menschen, die mich durch Pubertät. Erwachsenenalter und die Wirbelstürme des Lebens begleitet haben. Nicht umsonst, gibt es den Spruch „Wir sind der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen wir die meiste Zeit verbringen“. Es lohnt sich anzuschauen, wer diese fünf Menschen sind.
Persönlichkeit entwickelt sich
Die eigene Persönlichkeit, erklärt die erfahrene Coachin und Leiterin des POP-Instituts Frau West-Leuer, entwickelt sich intersubjektiv, also im emotionalen Kontakt zwischen Liebe und Hass, Kontrolle und Unterwerfung mit anderen Menschen, Einzelnen und in Gruppen. Wir können sie mittels eines Tests entdecken. Oft kommt bei den Tests etwas ganz anderes heraus, als wir uns wünschen, das ist auch bei PsychotherapeutInnen so. Es lohnt sich, dem Ergebnis offen zu begegnen und die ein oder andere Position bewusster zu besetzen.
Eine andere Möglichkeit sind Zeit für sich selbst und Neugier. Dina Wittfoth rät dazu sich selbst folgende Fragen zu stellen: Wie wirke ich auf andere? Will ich so wirken? Wo erlebe ich immer wieder die gleichen Probleme in anderer „Verkleidung“ – und was könnte ich ändern, um neue Erfahrungen zu machen? Was sind meine Werte und Ziele? Wo bin ich zufrieden mit meinem Leben und wo nicht? Was ist mir wirklich wichtig im Leben?‘ Ändern wollen wir uns und unsere Persönlichkeit ja meist, wenn etwas nicht klappt, wie wir es möchten oder wenn wir feststellen, dass wir so wie bisher, einfach nicht weiter kommen.
„Das Gefühl ist oft, dass man sich selbst im Weg steht. Dem Wunsch nach Veränderung der Persönlichkeit geht oft voraus, dass man sich der Verantwortung für sein Erleben und Erfahren bewusst geworden ist und bereit ist, diese zu übernehmen.“
Dina Wittfoth
Wichtig ist, nichts ist statisch.
Frau West-Leuer vergleicht es mit einer mathematischen Gleichung – anders als diese, sind wir nicht eindeutig definierbar. „Ein psychodynamisches Menschenbild, das jedem Menschen ein biografisch erworbenes, dynamisches Unbewusstes zuschreibt, geht davon aus, dass wir wissen, wer wir gerne sein möchten, oder wer wir vorgeben zu sein.“ Sie verweist darauf, dass wir alle nicht ohne Schatten sind: „Ohne Schatten wären wir nicht nur langweilig, sondern auch unerträglich. Wie finde ich mehr heraus: indem ich mich mutig auch meinem Schatten zu wende.“ Ich muss an den eigenen Schatten denken, der sich manchmal auf den Asphalt wirft und indem wir uns selbst sehen, erkennen. Manchmal ist der Blick dorthin nicht einfach, aber er ist die Grundlage dafür, dass wir die sein können, die wir sein möchten. Die zweifache Mutter und Neurowissenschaftlerin Dina Wittfoth ergänzt: „Grundlegend dafür ist, dass wir bereit sind, alle Vorannahmen über uns selbst in Frage zu stellen. Es ist wichtig sich dabei nicht zu überfordern, sondern sich zu fokussieren und kleine, regelmäßige Schritte zu unternehmen.“ Wem es schwer fällt mit Rückschlägen oder Gegenwind umzugehen, der kann Hilfe in unterstützenden Beziehungen wie Coaching oder Therapie finden.
Mir wird klar: Die Persönlichkeit eines Menschen unterliegt über die gesamte Lebensspanne hinweg Veränderungen – wir heiraten, wir lassen uns scheiden, bekommen Kinder, unsere Eltern versterben, wir ziehen um – es könnte endlos so weiter gehen. Vieles davon hat einen großen Einfluss auf uns. Die Neurowissenschaftlerin erkläutert: „Verlusterfahrungen, aber auch unglücklich machende Lebensumstände spielen eine Rolle, ebenso wie einschneidende körperliche Veränderungen (z.B. Pubertät, Zyklus, Schwangerschaft und Geburt, Perimenopause, aber auch Erkrankungen) – sie alle können zu Veränderungen unserer Persönlichkeit führen.“ Aber natürlich gilt das auch in positiver Hinsicht. Alles, was im Einklang mit unseren Werten und Zielen steht, kann uns positiv verändern.
Das biografische Narrativ
Ich habe mich zuletzt im Zusammenhang mit dem Weltfrauentag wieder mit der nigerianischen Schriftstellerin Chimananda Nigoze Adichie beschäftigt. Sie betont die Wichtigkeit von Geschichten, die wir einander erzählen und wie das Gehörte und Erlebte unsere Realität formt. Dass, was wir erleben, hat nicht zuletzt auch eine Bedeutung, wer wir sind. „Das Erlebte speichern wir in unserem Gedächtnis ab und stricken daraus – ganz subjektiv – ein biografisches Narrativ. Wir definieren uns über diese Geschichte. Interessant ist, dass wir neue Erfahrungen nutzen können, um unser Narrativ umzuschreiben.“, erklärt mir Frau West-Leuer. Sie erwähnt Supermodel und Schauspielerin Lily Cole. Diese erschien in Werbekampagnen unter anderem von Chanel, Christian Lacroix, Hermès und war auf internationalen Laufstegen unterwegs. „Lily Cole verkörperte das It-Girl per se. Dann veröffentlicht sie im August 2021 in einem Coming-Out, dass sie „queer“ ist. Lange angepasst an die Erwartung einer kommerzialisierten Öffentlichkeit nutzt sie nun ihren Bekanntheitsgrad, um sich öffentlich zu ihrer diversen sexuellen Orientierung zu bekennen. Jede und jeder kann bei sich selbst überprüfen, ob und wie anders die Persönlichkeit von Lily Cole wahrgenommen wird.“
Dieses Beispiel zeigt erneut, dass sich niemand in kulturelle Normen einfügen muss. Vielmehr ist unsere Welt so besonders, wenn sie offen und frei ist. Wenn wir andere anerkennen, wie sie sind und die Diversität unterschiedlicher Persönlichkeiten zu schätzen wissen. Frei von Geschlechterrollen, Klischees und heteronormativen Weltanschauungen. Beide Expertinnen glauben übrigens daran, dass wir die sein können, die wir sein wollen. Das macht Mut!
Über die ExpertInnen:
Dr. Beate West-Leuer ist Psychologischen Psychotherapeutin, Senior Coachin (DBVC), und Supervisorin (DGSv) sowie Leiterin des Instituts für Psychodynamische Organisationsentwicklung + Personalentwicklung (POP). Sie hat zahlreiche Fachbücher und Einzelbeiträge, auch bei uns im PersonalityMag, veröffentlicht.
Dina Wittfoth hat bereits Artikel für uns geschrieben und ihr könnt sie passend zu jeder Ausgabe im Podcast-Format „Frag Dina“ hören. Hier beantwortet sie immer die aktuelle Frage der Ausgabe.
Titelbild @ Raphael Lovaski via Unsplash
Beate West-Leuer @Michael Englert
*Roth, Gerhard: „Warum es so schwierig ist sich und andere zu ändern“, S.67
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